Der Raritätenladen
Jahre ganz und gar nichts angehen.
Das Kind blieb noch einige Minuten und sah dem tauben alten Manne zu, wie er mit seiner Schaufel Erde herauswarf, oft innehielt, um zu husten und Atem zu schöpfen, und dabei mit lustigem Kichern vor sich hinmurmelte, daß es mit dem Totengräber schnell bergab ginge. Endlich wandte sie sich weg, und während sie gedankenvoll durch den Kirchhof ging, traf sie unerwartet auf den Schulmeister, der auf dem Kirchhof auf einem grünen Grabe saß und las.
»Nell hier?« rief er freudig, während er sein Buch schloß. »Es tut mir wohl, dich wieder in der frischen, freien Luft und im Sonnenschein zu sehen. Ich fürchtete, du säßest wieder in der Kirche, in der du dich so viel aufhältst.«
»Sie fürchteten?« versetzte das Kind, sich an seiner Seite niederlassend. »Ist sie nicht ein gutes Plätzchen?«
»Ja, ja«, entgegnete der Schulmeister. »Aber du mußt auch bisweilen heiter sein – nein, schüttle nicht den Kopf und lächle nicht so gar traurig.«
»Sie würden es nicht traurig nennen, wenn Sie in meinem Herzen lesen könnten. Halten Sie mich nicht für traurig; es gibt kein glücklicheres Wesen auf Erden, als ich jetzt bin.«
Voll dankbarer Zärtlichkeit ergriff die Kleine seine Hand und hielt sie mit der ihrigen umklammert.
»Es ist Gottes Wille!« sagte sie, nachdem beide eine Weile geschwiegen.
»Was?«
»Alles dies«, versetzte sie; »unsere ganze Umgebung. Aber wer von uns ist jetzt traurig? Sie sehen, daß ich lächle.«
»Ich gleichfalls«, entgegnete der Schulmeister; »ich lächle bei dem Gedanken, wie oft wir noch an diesem nämlichen Orte lachen werden. Hast du nicht dort mit jemandem gesprochen?«
»Ja«, antwortete das Kind.
»Vielleicht von etwas, das dich wehmütig stimmte?«
Es folgte eine lange Pause.
»Was war es?« fragte der Schulmeister zärtlich. »Komm, sage mir, was es war.«
»Es tut mir weh, ja, es tut mir wahrhaftig weh«, erwiderte das Kind in Tränen ausbrechend, »denken zu müssen, daß diejenigen, welche um uns her sterben, so bald vergessen sind.«
»Und glaubst du«, sprach der Schulmeister, dem ihr umherschweifender Blick nicht entgangen war, »daß ein unbesuchtes Grab, ein welker Baum oder trockene Blumen Merkzeichen des Vergessenseins oder der kalten Vernachlässigung sind? Glaubst du nicht, daß fern von hier Dinge geschehen, durch die man das Andenken der Toten am besten ehrt? Nell, Nell,
in diesem Augenblick pilgern vielleicht Leute durch die Welt, deren gute Handlungen und gute Gedanken gerade diese Gräber, so vernachlässigt sie auch aussehen, geweckt haben.«
»Sagen Sie mir nichts mehr«, versetzte das Kind rasch. »Sagen Sie mir nichts mehr. Ich fühle, ich weiß es. Wie konnte ich das vergessen, wo ich Sie vor Augen hatte?«
»Es gibt nichts«, rief ihr Freund, »nein, gar nichts Gutes oder Unschuldiges, das stirbt und vergessen wird. Mögen wir diesen Glauben bewahren oder keinen. Ein ganz kleines, ein plapperndes Kind, das in seiner Wiege stirbt, lebt fort in den besseren Gedanken derer, die es liebten, und hat in ihnen einen Anteil an den versöhnenden Handlungen dieser Welt, obgleich vielleicht sein Körper zu Asche verbrannt oder in den tiefsten See versenkt ist. Es gibt keinen in die himmlischen Heerscharen aufgenommenen Engel, der nicht in denen, die ihn hienieden liebten, seine Segenswerke übte. Vergessen! Ach, wenn die guten Handlungen menschlicher Wesen bis zu ihrem Ursprung verfolgt werden könnten, wie schön müßte sogar der Tod erscheinen; denn wie viel Barmherzigkeit, Mitleid und reine Liebe würde man nicht dem Gräberstaube entsprossen sehen!«
»Ja«, sagte das Kind, »das ist wahr, ich weiß, das ist wahr! Wer könnte ihre Macht tiefer empfinden als ich, in der Ihr kleiner Schüler wieder auflebt! Lieber, lieber guter Freund, wenn Sie doch wüßten, welchen Trost Sie mir gegeben haben!«
Der arme Schulmeister antwortete nicht, sondern beugte sich schweigend über sie, denn sein Herz war voll.
Sie saßen noch an derselben Stelle, als der Großvater herzukam. Ehe sie noch viel miteinander gesprochen hatten, verkündete die Kirchturmuhr, daß es Zeit für die Schule sei, und ihr Freund entfernte sich.
»Ein guter Mann«, sagte ihr Großvater, ihm nachsehend,
»ein wohlwollender Mann. Er wird uns gewiß kein Leid tun, Nell. Hier sind wir endlich sicher. Wie? Wir gehen doch nicht wieder fort von hier?«
Die Kleine schüttelte das Köpfchen und lächelte.
»Sie bedarf der Ruhe«, fuhr der
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