Der Raritätenladen
Sie können sich gar nicht denken, wie gern er mich hat!«
»Ich bin überzeugt, daß er dich zärtlich liebt«, versetzte Frau Quilp.
»O gewiß, gewiß tut er das!« rief Nell; »so zärtlich, als ich ihn liebe. Aber das Ärgste habe ich Ihnen noch nicht erzählt; und das dürfen Sie schon gar niemandem sagen. Er hat keinen Schlaf und keine Ruhe, außer daß er manchmal tagsüber in seinem Lehnstuhl sitzt; denn jede Nacht – und fast die ganze Nacht über – ist er nicht zu Hause.«
»Nelly!«
»Pst!« sagte das Kind, den Finger auf die Lippen legend und umhersehend. »Wenn er morgens nach Hause kommt, was gewöhnlich kaum vor Tagesanbruch geschieht, so öffne ich ihm die Tür. Heute kam er gar spät – es war schon ganz hell. Ich sah, daß sein Gesicht totenblaß, seine Augen blutunterronnen waren, und daß seine Beine im Gehen zitterten. Als ich mich wieder zu Bett gelegt hatte, hörte ich ihn stöhnen. Ich stand auf und eilte zu ihm; da hörte ich ihn, ehe er wußte, daß ich in seiner Nähe war, sagen, er könne ein solches Leben nicht länger ertragen, und wenn es nicht um des Kindes willen wäre,
so möchte er lieber sterben. Was soll ich tun? Ach, was soll ich tun?«
Die Quellen ihres Herzens waren geöffnet. Die Kleine, überwältigt von der Last ihres Kummers und ihrer Sorgen, ergriffen von der Offenheit, die sie hier zum erstenmal gezeigt hatte, und im Gefühle, daß ihre kleine Erzählung mit Teilnahme aufgenommen worden war, verbarg ihr Gesicht in den Armen ihrer hilflosen Freundin und brach in einen Strom von Tränen aus.
Ein paar Augenblicke später trat Herr Quilp in das Gemach und war ungemein erstaunt, sie in diesem Zustande zu finden; er erschien ganz natürlich, und seine Verstellung gelang ihm außerordentlich, denn sie war ihm durch lange Übung zur zweiten Natur geworden, und er fühlte sich auf einem solchen Boden ganz heimisch.
»Sie ist müde, wie du siehst, liebe Frau«, sagte der Zwerg, indem er seiner Gattin mit einem gräßlichen Schielen zu verstehen gab, daß sie auf seine Weise eingehen solle. »Es ist ein langer Weg von ihrem Hause bis zur Werft; dann wurde sie auch durch ein paar sich balgender Schufte erschreckt, und außerdem fürchtete sie sich auch vor dem Wasser. All dies ist zu viel für sie gewesen. Arme Nell!«
Ohne es zu wollen, schlug er den sichersten Weg ein, den er sich hätte erdenken können, um seinen kleinen Gast zu sich zu bringen, indem er Nelly den Kopf streichelte. Ein solches Verfahren von irgendeiner andern Hand dürfte kaum einen merklichen Erfolg hervorgebracht haben; aber das Kind bebte so rasch vor seiner Berührung zurück und hatte ein so starkes Verlangen, aus seiner Nähe zu kommen, daß sie plötzlich aufstand und erklärte, sie sei bereit, nach Hause zurückzukehren.
»Du würdest aber besser tun, zu bleiben und mit Frau Quilp und mir zu speisen«, sagte der Zwerg.
»Ich bin schon viel zu lange ausgewesen, Sir«, versetzte Nell, die Augen trocknend.
»Gut«, entgegnete Herr Quilp; »wenn du durchaus fort willst, so muß man dir deinen Willen lassen, Nelly. Hier ist die Antwort. Ich sage ihm darin nur, daß ich ihn morgen oder vielleicht übermorgen besuchen werde und daß ich seinen kleinen Auftrag heute nicht besorgen kann. Gehab dich wohl, Nelly! Heda, Bürschchen, gib acht auf sie – hörst du?«
Kit, der auf den Ruf herbeikam, hielt es nicht der Mühe wert, auf eine so unnötige Einschärfung zu antworten, sondern stierte Quilp mit drohender Gebärde an, als hielte er ihn für die Ursache von Nellys Tränen und fühlte sich mehr als halb geneigt, auf den bloßen Verdacht hin diese Sünde an ihm zu rächen; dann wandte er sich um und folgte seiner jungen Herrin, die sich inzwischen von Frau Quilp verabschiedet und das Zimmer verlassen hatte.
»Sie sind ja fabelhaft bei dem Verhör vorgegangen, nicht wahr, Frau Quilp?« brach der Zwerg gegen seine Gattin los, sobald sie allein waren.
»Was konnte ich weiter tun?« versetzte die arme Frau sanft.
»Was du weiter tun konntest?« höhnte Quilp. »Hättest du nicht vielleicht noch weniger tun können? Konntest du nicht tun, was du zu tun hattest, ohne in deiner Lieblingsrolle als Krokodil aufzutreten, du Hexe?«
»Mir tut das Kind sehr leid, Quilp«, sagte die Frau; »gewiß habe ich genug getan. Ich habe sie veranlaßt, mir ihr Geheimnis mitzuteilen; aber sie glaubte, daß wir allein wären, und du warst in der Nähe. Gott verzeih mirs!«
»Du hast sie veranlaßt? Da hast du
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