Der Raritätenladen
anzündete, weil es nun draußen so spät und in ihrem Zimmer gar so langweilig aussah. Dann zog sie gewöhnlich ihren Kopf zurück, um im Zimmer umherzublicken und sich zu überzeugen, daß alles an seinem Orte stand und nichts sich bewegt hatte; und wenn sie wieder nach der Straße hinunterschaute, sah sie vielleicht einen Mann mit einem Sarg auf dem Rücken vorbeigehen und etliche andere ihm schweigend in ein Haus folgen, in dem irgendein Toter lag. Dies machte sie schaudern und erregte in
ihr Gedanken an ähnliche Dinge, bis ihr aufs neue das veränderte Gesicht und Wesen des alten Mannes und eine ganze Reihe neuer Sorgen und Befürchtungen vor die Seele traten. Wenn er stürbe – wenn er von einer plötzlichen Krankheit befallen würde und lebend nie wieder nach Hause kehrte – wenn er einmal des Nachts heimkäme und sie wie gewöhnlich küßte und segnete, und dann – wenn sie zu Bett gegangen und eingeschlafen wäre, vielleicht lustige Träume hätte und im Schlafe lächelte – sich tötete, und sein Blut ränne und ränne auf dem Boden fort bis zu der Tür ihres Kämmerchens! – Diese Gedanken waren zu schrecklich, um bei ihnen zu verweilen, und wieder nahm sie dann ihre Zuflucht zu der Straße, die jetzt weit leerer, dunkler und stiller war als zuvor. Die Läden wurden bald geschlossen, und die Lichter begannen aus den oberen Fenstern zu blinken, da die Nachbarn jetzt zu Bette gingen. Allmählich wurden auch diese matter und verschwanden oder machten hie und da einem trüben Nachtlichte Platz, das die ganze Nacht durch brennen sollte. Nur ein einziger Laden ganz in der Nähe, der am längsten offenblieb, goß seinen rötlichen Schein über das Pflaster; es sah dort hell und gesellig aus. Aber nach einer kurzen Weile wurde auch dieser geschlossen; das Licht erlosch, und alles war düster und ruhig; nur manchmal wurde die Stille durch vereinzelte Fußtritte, die auf dem Pflaster hallten, unterbrochen oder durch einen Nachbar, der später als gewöhnlich zurückkam und kräftig an seine Haustür pochte, um die schlafenden Insassen zu wecken.
Wenn die Nacht so weit vorgerückt war – in der letzten Zeit geschah es selten früher –, schloß das Kind das Fenster, stahl sich leise die Treppe hinab und machte sich unterwegs Gedanken, wie sie erschrecken würde, wenn eins jener häßlichen Gesichter, die sich oft in ihre Träume mischten, ihr begegnen
und sich ihr durch irgendein seltsames von ihm ausstrahlendes Licht sichtbar machen würde. Aber diese Furcht verschwand vor dem hellen Lampenlichte und dem wohlbekannten Anblick ihres eigenen Kämmerleins. Nachdem sie heiß und unter vielen Tränen für den alten Mann, für die Wiederherstellung seiner Seelenruhe und für die Wiederkehr des Glückes, dessen sie sich früher erfreut, gebetet hatte, legte sie ihr Haupt auf das Kissen und schluchzte sich in den Schlaf. Oft vor Tagesanbruch fuhr sie wieder auf, um auf die Klingel zu hören, oder gab Antwort auf Rufe, die sie im Traum gehört und die sie aus dem Schlummer gerissen hatten.
In einer Nacht, der dritten nach Nellys Besuch bei Frau Quilp, sagte der alte Mann, der sich den ganzen Tag schwach und unwohl gefühlt hatte, er werde heute nicht ausgehen. Die Augen des Kindes leuchteten bei dieser Nachricht; aber ihre Freude wich schnell wieder, als sie sein krankes und vergrämtes Gesicht betrachtete.
»Zwei Tage«, sagte er, »zwei ganze volle Tage sind vergangen, und noch ist keine Antwort da. Was hat er dir gesagt, Nell?«
»Genau das, was ich Ihnen schon mitgeteilt habe, lieber Großvater; sonst gar nichts.«
»Richtig«, versetzte der alte Mann mit matter Stimme. »Ja. Aber sage es mir noch einmal. Ich vergesse alles. Was sagte er dir? Weiter nichts, als daß er mich morgen oder übermorgen besuchen wolle? Das stand in seinem Billett.«
»Weiter nichts«, sagte das Kind. »Soll ich morgen wieder hingehen, lieber Großvater? Sehr früh? Ich werde vor dem Frühstück dort und wieder zurück sein.«
Der alte Mann schüttelte den Kopf, seufzte kläglich und zog sie an sich.
»Es würde nutzlos sein, mein Lieb, ganz nutzlos. Wenn er
mich aber in diesem Augenblick verläßt, Nell – wenn er mich jetzt verläßt, da ich durch seinen Beistand belohnt werden sollte für all die Zeit und das Geld, das ich verloren, und für all die Seelenqual, deren Zentnergewicht mich zu einem Schatten gemacht hat –, dann bin ich zugrunde gerichtet, und was noch schlimmer, weit schlimmer als dies ist – ich habe auch
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