Der Rattenfänger
kleine Mannschaft genügte, um das Schiff flussabwärts zu segeln. Am Heckrail stand eine Gruppe Offiziere, die an ihren dunkelblauen Röcken und den Zweispitzen zu erkennen waren. Auch daran fand Jago nichts ungewöhnlich. Bis auf die Beflaggung wies nichts auf den bevorstehenden Stapellauf des Kriegsschiffs hin. Denn es herrschte keine freudige Stimmung, weder an Land noch an Bord.
Aber die Arbeiter sind wohl an derartige Ereignisse gewöhnt und machen nicht viel Aufhebens davon, dachte Jago. Da richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Gruppe an der Heckreling, und er entdeckte inmitten der Marineoffiziere eine imposante Gestalt mit breiter Schärpe, einem Degen an der Hüfte, die mächtige Brust mit Bändern, Orden und Troddeln geschmückt und einem weißen Federbusch auf dem Hut.
Jago gaffte mit offenem Mund. Jetzt war ihm klar, warum mehr Marinesoldaten als gewöhnlich in Deptford stationiert waren. Er drehte sich um und sagte zu James Read: »Allmächtiger Gott! Das ist der Prinzregent! Was hat der hier verloren? Sie sollten ihn doch dazu bewegen, nicht an Bord zu gehen.«
Der Oberste Richter schwieg. Nur seine Mundwinkel zuckten. Kommissar Dryden musterte wieder seine Schuhe.
In diesem Augenblick wurde Jagos Aufmerksamkeit von einem Platschen und einem lauten Schrei abgelenkt.
Ein Matrose eines Versorgungsboots war ins Wasser gefallen. Laut lachend und spottend zogen ihn seine Kameraden wieder an Bord. Dort lag er dann wie ein nasses Häufchen Elend auf Deck. Was dann jedoch passierte, raubte Jago schier den Atem. Einer der Marinesoldaten, die am Heck saßen, stieß dem Matrosen den Kolben seiner Flinte in den Rücken, während die anderen ihn lachend verhöhnten und beschimpften.
Es waren nicht der Schlag in den Rücken oder das Gelächter der Matrosen, das Jago verblüffte, sondern die Sprache. Zunächst glaubte er, sich verhört zu haben, bis ein Offizier in einem Ruderboot einen scharfen Befehl erteilte, worauf die Matrosen sofort verstummten.
In dem Ruderboot saßen etwa ein halbes Dutzend Offiziere und ein bewaffneter Marinesoldat. Als Jago näher hinsah, fiel ihm auf, dass mit dem Aussehen der Offiziere irgendetwas nicht stimmte.
Das Spektakel hatte die Aufmerksamkeit der Männer an Deck des Kriegsschiffs erregt. Ein paar standen jetzt an der Heckreling, und dann kam ein Aufschrei, als ein schwarzer Hut mit Federbusch über Bord fiel, gegen den Rumpf prallte und dann aufs Wasser klatschte. Ehe der Hut sinken konnte, fischte ihn jedoch einer der Männer in dem Versorgungsboot heraus und schwenkte ihn triumphierend. Der Hut hatte den Sturz nicht unbeschadet überstanden; die nassen Federn klebten am Rand. Bemerkenswert war jedoch, dass auf der einen Seite des Huts plötzlich ein breiter gelber Streifen zu sehen war.
Jago krampfte sich der Magen zusammen. Schnell schweifte sein Blick von dem Hut zum Deck des Kriegsschiffs hoch. Ohne Hut waren die Gesichtszüge der Gestalt dort deutlich zu erkennen. Jago war bis ins Mark erschüttert.
»Oh, verdammt!«
Jago drehte sich um und sah, dass der Oberste Richter und Kommissar Dryden ihn beobachteten.
Völlig durcheinander musterte Jago erneut die Soldaten in dem Ruderboot. Was war ihm an den Uniformen aufgefallen? Ja, besonders schick sahen sie nicht aus, eher etwas schmuddelig. Sie waren in einem Zustand, der diesem feierlichen Ereignis eigentlich nicht gerecht wurde. Hätte Jago es nicht besser gewusst, hätte er gesagt, die Uniformen sahen aus, als stammten sie aus einer Klamottenkiste. Beim Stapellauf eines nagelneuen Kriegsschiffs hätte die Mannschaft doch in Paradeuniformen antreten müssen.
Und dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz. Er musterte noch einmal das Schiff, die Männer an Bord, das Treiben auf den Kais, die Marinesoldaten. Und in welcher Sprache haben die Männer im Versorgungsboot ihren Kameraden verhöhnt, überlegte er wieder.
»Heilige Mutter Gottes!«, sagte Jago ehrfurchtsvoll. Dann starrte er James Read entsetzt an. »Sie sind wahnsinnig! Das funktioniert nie!«
William Lee fuhr prüfend mit der Hand über sein Kinn und betastete seine nachwachsenden Bartstoppeln. Was ihn mit Freude erfüllte. Ohne seinen Bart, den er seit über zehn Jahren trug, war er sich nackt vorgekommen. Jetzt, wo sich seine Mission dem Ende zuneigte und eine Verkleidung nicht mehr nötig war – Lord Mandrake hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, dass ein französischer Aristokrat mit Haaren im Gesicht unmöglich aussehe –, konnte er
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