Der Rattenfänger
dann im Spiegel sah, hatte wenig Ähnlichkeit mit einem Bow Street Runner. Statt Hemd und Halstuch, des maßgeschneiderten Rocks, der eleganten Weste und den dunklen Kniehosen trug Hawkwood jetzt ein zerschlissenes braunes Hemd, eine schäbige Wolljacke, eine ausgefranste, am Hosenboden glänzende Hose mit scharlachrotem Saum und ein Paar abgetretene Stiefel. Hawkwood hatte diese Stiefel einem toten französischen Offizier ausgezogen, denn französischen Stiefeln wurde gute Qualität nachgesagt.
Dann ging er vor dem Kaminrost in die Hocke und rieb Asche auf seine Kleidung. Er löste seine Haarschleife im Nacken und rieb ebenfalls Asche in sein langes Haar. Er trat vor den Spiegel und betrachtete das Ergebnis. Niemand würde ihn jetzt für einen Gesetzeshüter halten. Eher für einen Gelegenheitsarbeiter oder einen heruntergekommenen Veteran.
Zufrieden mit seiner Verkleidung steckte Hawkwood noch seinen Schlagstock in den Gürtel und verließ das Zimmer. Über die Hintertreppe gelangte er in die schmale Passage hinter dem Wirtshaus und verschwand ungesehen in der Nacht.
Hawkwood schlich äußerst vorsichtig durch die immer enger werdenden Gassen. Shadwell lag am östlichen Ende des Ratcliffe Highway. Weder Lampen noch Fackeln leiteten ihn durch das Straßengewirr. Er kam sich völlig verloren vor. Kein ehrlicher Mann wagte sich nachts in dieses Viertel.
Als Hawkwood das Klirren zersplitternden Glases hörte, blieb er abrupt stehen und verschmolz mit den Schatten der Nacht. Er drehte das Gesicht halb zur Wand und lauschte. In einiger Entfernung prügelten sich zwei Betrunkene. Der Eine holte mit einer Flasche aus und schlug zu. Der Getroffene sackte in sich zusammen, und als sich der Mann am Boden krümmte, trat ihn der andere Raufbold mit der Stiefelspitze brutal gegen den Kopf. Dann durchwühlte er hastig die Taschen seines Opfers und torkelte davon, den Flaschenhals noch in der Hand.
Hawkwood ging an dem Mann, der jetzt in der Gosse lag, vorbei, ohne sich um ihn zu kümmern. Sobald er verschwunden war, würden Leichenfledderer wie Geier über den Leblosen herfallen.
Die verwahrlosten, aneinander gebauten Holz- und Steinhäuser waren Brutstätten für alle möglichen Krankheiten. Erst vor kurzem hatte sich hier eine Typhusepidemie ausgebreitet, und es war nur eine Frage der Zeit, bis die Infektionskrankheit aufs Neue ausbrach und noch mehr Menschenleben forderte.
Hawkwood war diese Gegend zwar nicht fremd, aber er hatte Mühe, sich im Labyrinth dieses Elendsviertels zurechtzufinden. Schließlich bog er in eine schmale Gasse ein und ging zum Fluss hinunter.
Am Ufer der Themse angekommen, entdeckte er am Ende des Kais sofort das ausgediente und abgetakelte Schiff. Ein Wald aus Masten reckte sich dem Vollmond entgegen, der wie eine leuchtende, runde Scheibe vor einem dunklen Samtvorhang hing. Über dem Wasser lag ein dünner Nebelschleier, schaurig wie der Atem eines Drachens. In der gespenstigen Stille klang jedes Geräusch unnatürlich laut: das Scheuern des Schiffsrumpfs an der Kaimauer; das Knirschen einer Ankerkette, wenn die Flut am Schiff zerrte; das Klatschen der Segel gegen die Masten. Vom anderen Themseufer hallte der tiefe Ton einer Schiffsglocke herüber.
Es hieß, das abgetakelte Schiff habe vor Jahren für die Ostindische Gesellschaft Elfenbein und Musselin transportiert und sei später wegen einer zu geringen Ladekapazität ausrangiert worden. Doch manche Leute waren der Meinung, das Frachtschiff habe Sklaven transportiert.
Jedenfalls war das Wrack früher einmal ein schönes Schiff gewesen, das stolz Gischt und Wellen getrotzt und seine Segel in einen azurblauen Himmel gereckt hatte. Jetzt lag es im Schlamm der Themse und faulte vor sich hin.
Niemand konnte sich an den Namen des einst stolzen Seglers erinnern. Die Buchstaben an dem geschwungenen Heck waren längst verblasst. Das Wrack diente jetzt als Unterschlupf für allerlei Gesindel und wurde nur noch Rats Nest genannt.
Für Streuner, heimatlose Seefahrer, ausgemusterte Matrosen der Ostindischen Gesellschaft – größtenteils Ausländer in einem feindlich gesinnten Land – stellte der stinkende Schiffsbauch eine Art Schutz dar. Völlig mittellos in England gestrandet und ohne Kenntnis der Landessprache, hatten diese Männer keine Aussicht auf eine Passage in ihre Heimatländer. Als Fremde an fremden Gestaden hatten diese von der Gesellschaft Ausgestoßenen Zuflucht bei ihresgleichen – den Kairatten – gesucht und
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