Der Rattenzauber
der Blitz.«
Mit gekrümmten Rücken eilten wir über die Brücke, während sich der Regen mehr und mehr mit Hagelkörnern mischte, die schmerzhaft auf dem Körper brannten. Blitze ästelten sich durch die Schwärze. Auf der anderen Seite angekommen nahmen wir denselben Weg, auf dem ich den Friedhof der Wodan-Jünger schon Tage zuvor erreicht hatte. Wir folgten der alten Heerstraße, gelangten über den aufgeweichten Pfad zum Waldrand und eilten schließlich zwischen den Bäumen einher, die um uns aufragten wie Säulenalleen in einer finstere Halle.
Meine Sinne waren wie betäubt. Alles, was ich wahrnahm, waren der Lärm des Gewitters, die eisige Nässe und immer wieder die antreibenden Rufe der Männer. Fluchend liefen sie vornweg, bis wir endlich den Friedhof erreichten. Aus den Portalen der Grüfte und Beinhäuser fiel sanfter Schimmer wie von Fackeln in der Tiefe, doch zeigte sich niemand, der uns empfing.
Die Männer geleiteten mich zu einer steinernen Kuppel, unter der zwischen brüchigen Marmorsäulen eine Treppe hinab in den Berg führte. Der Einstieg befand sich unweit des Platzes, auf dem die junge Esche heranwuchs, so daß ich annahm, daß es sich um den Zugang zu Liutbirgs Unterkunft handelte. Die Stufen führten hinab auf einen bemerkenswert reinlichen Gang, dessen Ende sich zu einer weitläufigen Kammer ausdehnte. An der Wänden der Gruft gab es eine stattliche Anzahl von Nischen. In einigen flackerten Kerzen aus Talg, andere dienten als Fächer für Kultgegenstände, Schüsseln und Fässer. Sogar einige ledergebundene Schriften erkannte ich in den Schatten.
In einer Ecke befand sich ein Lager aus Fellen, Liutbirgs Schlafstatt. Die schwergewichtige Hohepriesterin der Wodan-Jünger hatte ihre Körpermassen in die Höhe gewuchtet und auf einer Art Thron Platz genommen, der nichts anderes war als ein Steinblock zur Aufbahrung von Toten. In den oberen Teil hatte man einen Sitz gemeißelt. Die Ränder waren geschmückt mit Sträußen aus Ähren und getrockneten Blumen.
Liutbirg, die gefallene Schwester von Wetteraus, blickte mir voller Zufriedenheit entgegen. »Ich hoffe, Ihr wißt zu schätzen, welch hohen Einsatz ich für Euer Leben geleistet habe, Ritter Robert«, sagte sie und deutete mit einem Kopfnicken auf meine beiden Begleiter. »Dies sind meine besten Männer. Ich hätte mir nie verziehen, wenn ihnen etwas zugestoßen wäre.«
»Eure besten Mörder, nehme ich an«, entfuhr es mir trotzig, doch ich bereute die Worte sofort.
Die beiden lächelten nur. Einer nickte. »Ihr seid in guter Gesellschaft, Ritter.«
Liutbirg gab ihnen einen Wink. »Wodan sieht eure Dienste mit Freuden, ich danke euch. Doch nun geht. Der Ritter und ich müssen reden.«
Die beiden verneigten sich und verließen die Gruft. Einer schenkte mir im Hinausgehen ein vertrauliches Augenzwinkern, bei dem es mir kalt über den Rücken lief. In der Tat, das Gesindel betrachtete mich als seinesgleichen.
»Warum habt Ihr mich gerettet?« fragte ich und wählte versehentlich das ehrenvolle »Ihr«.
Liutbirg kicherte leise. »Warum habt Ihr mich gerettet«, ahmte sie mich in höhnischem Tonfall nach. »Muß ich dir das wirklich erklären, Robert von Thalstein?«
»Ich bin unschuldig«, sagte ich fest.
Die Priesterin schüttelte sich vor Lachen. »Verzeih mir, ich will dich nicht demütigen. Aber waren es nicht ganz ähnliche Worte, die ich sprach, als wir uns das letzte Mal trafen? Auch ich wollte dich von unserer Unschuld überzeugen. Ich bin nicht sicher, ob mir das gelungen ist.«
Ich schloß einen Herzschlag lang die Augen und öffnete sie wieder. Noch immer drehte sich mein Denken im Kreis. »Ich habe die toten Kinder gesehen.«
»Mich wundert, daß Gunthar das zuließ.«
»Ich geriet erst in seine Gewalt, nachdem ich die Leichen entdeckt hatte. Er konnte es nicht verhindern.«
»Und als ihm das klar wurde, ließ er dich in den Kerker werfen«, folgerte sie. »Sein Streben, deine Rückkehr zum Herzog zu unterstützen, damit du die Soldaten auf uns hetzt, hatte sich als fruchtlos erwiesen. War es nicht so?«
»Ja«, gab ich zu, erstaunt über ihr Wissen. »Er konnte nicht mehr riskieren, daß ich mit meinem Herrn spreche. Er wußte, daß ich die Wahrheit längst ahnte.«
»Demnach weißt du, wie die Kinder ums Leben kamen?« fragte sie.
»Nein, nicht wirklich. Aber es muß mit dem Mysterienspiel zu tun haben. Und mit Gunthar selbst.«
Liutbirg holte tief Luft. Ihr mächtiger Busen hob sich wie ein Blasebalg beim
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