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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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verstummten, die Kinder setzten sich in Bewegung. Und im gleichen Moment ertönte ein gräßliches Geräusch, ein Krachen und Brechen und Donnern, als habe sich der Boden aufgetan, um die Menge zu verschlingen.«
    »Die Bühne stürzte zusammen«, flüsterte ich atemlos.
    »Die feuchten Balken, die dem Feuer, aber nicht der zersetzenden Kraft der Nässe standgehalten hatten, gaben unter der Last nach, sie splitterten und rissen alles, was sich darüber befand, in die Tiefe. Die Kinder, die allein auf der Bühne standen, stürzten nach unten in das lodernde Feuer. Und bevor irgendwer etwas zu ihrer Rettung unternehmen konnte, brach auch der Rest der Aufbauten in sich zusammen und begrub Kinder und Flammen unter einer Unzahl schwerer Eichenbalken. Diese fingen ebenfalls Feuer, und der Marktplatz verwandelte sich in der Tat in die schlimmste aller Höllenvisionen. Alles brannte, nicht ein Kind entkam dem Inferno. Ihre Eltern rannten um das eigene Leben, und als sie zurückkehrten, waren ihre Jungen und Mädchen längst tot. Nur jene Kinder, die nicht an dem Spiel hatten teilnehmen dürfen, jene wenigen, die mein Bruder wegen ihrer Krankheiten ausgesondert hatte, überlebten.«
    Meine Stimme klang fremd in meinen eigenen Ohren, als ich nach einem Augenblick des Schweigens sagte: »Aber warum gab es niemanden, der mir schon früher die Wahrheit sagte?«
    »Die Menschen hatten Angst«, sagte Dante, doch Liutbirg strafte ihn mit einem verächtlichen Lachen.
    »Angst?« schrie sie aufgebracht. »O nein, Dante Alighieri, nicht einer von ihnen hatte Angst. Diese Menschen dachten nur an ihr eigenes Wohl, jeder einzelne von ihnen. Die Macht eines Heiligen ist groß in eurer Religion. Alles was geschehen ist – die Sklavenarbeit, um die Bühne in kürzester Zeit zu errichten, all die Entbehrungen in den Armenhütten, obwohl die neuen Häuser längst hätten fertig sein müssen, ja sogar der Tod der eigenen Kinder – all das wurde in Kauf genommen, damit Hameln seinen eigenen Heiligen erhält. Die Menschen sind bereit, zu seinen Ehren zu morden. Und mit der Ehre allein ist es nicht getan: Von seiner Aura versprechen sie sich gute Ernten, Reichtum, die Gnade Gottes und ihre Erlösung im Leben nach dem Tod. Die Menschen tun alles für ihren Heiligen. Alles!«
    »Aber … die eigenen Kinder!« stammelte ich.
    Liutbirg schnaubte und spie abfällig aus. »Was sind Kinder im Tausch für ein Leben im Wohlstand – und, wichtiger noch, für die Ewigkeit? Nichts, Ritter Robert, nichts sind sie wert. Ihr habt gesehen, wie die Menschen hier und in anderen Städten leben. Sie kennen nichts als die Armut, nichts als Krankheit, Elend und Tod. Und plötzlich kommt einer – mein Bruder – und verspricht ihnen das Paradies auf Erden, wenn sie zum Ruhme Gottes und zu seinen Ehren ein Mysterienspiel aufführen. Und wenn dabei ihre Kinder zu Grunde gehen, was bedeutet ihnen das? Nur ein paar Mäuler weniger zu stopfen und die Möglichkeit, ein paar neue in die Welt zu setzen, die in besseren Umständen aufwachsen. Nicht Gunthar hat die Hamelner Kinder getötet. Auch nicht der versoffene Baumeister, dessen Bühne zusammenbrach. Euer Glaube hat es getan.«
    »Niemand wollte das verheißene Glück aufs Spiel setzen«, murmelte Dante wie zu sich selbst. »Deshalb haben sie alle geschwiegen, ohne Ausnahme.«
    In meinem Kopf flackerten Bilder aus den vergangenen Tagen, Eindrücke und Erlebnisse, die plötzlich in völlig neuem Licht erschienen. Jetzt erst begriff ich, wessen ich Zeuge geworden waren. Der Heilige Vater und seine Gesandten durften nichts von dem Unglück erfahren, denn das hätte als Zeichen, als Gottesurteil gegen ihr Spiel aufgefaßt werden können. Und von Wetteraus schändlicher Plan, seine Heiligsprechung, wäre für alle Zeiten durchkreuzt worden. Deshalb hatte der Probst jeden Bewohner Hamelns zum Schweigen verpflichtet. Die ganze Stadt war verflucht bis auf den Jüngsten Tag.
    »Wer aber tötete den Baumeister?« fragte ich schwach, beinah nur, um die schreckliche Stille zu übertönen und den Wirbel der Bilder zu beenden.
    »Gunthars Leute«, entgegnete die Priesterin, »vorausgesetzt, er machte seinem Leben nicht selbst ein Ende.«
    Ich schwieg, befangen von allerlei düsteren Gedanken.
    Liutbirg fuhr fort: »Seit Monaten war er auf der Flucht vor sich selbst. Er floh aus der Stadt, gleich nach dem Unglück, kam schließlich wieder, als Gunthar ihn rufen ließ, arbeitete sogar noch eine Weile an der Bühne. Dann aber verlor er

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