Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
sich endgültig in einem Taumel aus Suff und Spiel, schlief mal hier, mal dort und schien doch unfähig, Hameln zu verlassen. Etwas hielt ihn am Ort seines Versagens. Vielleicht wollte er gutmachen, was durch seinen Fehler geschehen war. Dabei war es längst zu spät. Seine Schüler hatten die Aufsicht über die Arbeiten schon an sich gerissen.«
    »Aber warum zog er gerade in meine Herberge? Weshalb gleich ins Nebenzimmer?«
    Die Priesterin lachte bitter. »Sicherlich auf Gunthars Rat hin. Damals wußte mein Bruder bereits, daß er Nikolaus töten mußte. Er war einer der wenigen von außerhalb der Stadt, der die Wahrheit über die Kinder kannte. Er hätte reden können. Über ihn besaß Gunthar keine Macht.«
    »Dann war es auch dein Bruder, der den Zauberbeutel mit dem Rattenkönig in meine Kammer bringen ließ«, flüsterte ich. Mir war, als erwachte ich aus tiefer Ohnmacht.
    Liutbirg hob die Schultern. Sie wußte nichts von dem Beutel.
    Für mich aber bestand kein Zweifel mehr. Gunthar selbst hatte mir all das angetan. Ihm hatte ich die Anflüge des Wahnsinns zu verdanken, die mich seither quälten.
    Das brachte mich auf eine weitere Frage, die mir glühend auf den Lippen brannte, doch Dante kam mir zuvor:
    »Verzeiht, wenn ich mich nun verabschiede«, sagte er. »Diesmal endgültig«, fügte er mit einem kurzen Lächeln hinzu.
    »Ihr wollt fort?« fragte ich.
    »So schnell wie nur möglich. Nichts bindet mich mehr an Hameln – außer den Ketten, die der Probst für mich bereithält.« Er reichte mir die Hand, zog mich heran und umarmte mich von neuem. »Mein Pferd wartet, das Bündel ist geschnürt. Doch vergeßt nicht, mein Angebot gilt weiterhin, heute mehr denn je. Besucht mich in Florenz. Vielleicht können wir dann über die Ereignisse lachen.«
    Ich zwang mich zu einem faden Grinsen. Der Abschied fiel mir schwer. »Wir werden viel Wein trinken müssen, bis es soweit kommt.«
    »Das werden wir«, sagte er mit gespielter Fröhlichkeit und drehte sich um.
    Ich blickte ihm nach, als er den Gang hinunterging und im Treppenschacht verschwand. Kurz darauf drang das Wiehern seines Pferdes bis herab in die Gruft, als Dante sich hinaufschwang und durch den Wald davonritt.
    Als ich mich wieder umwandte, stand Liutbirg unmittelbar hinter mir. Ich hatte nicht gehört, daß sie näher gekommen war. Ein säuerlicher Geruch ging von ihr aus, den ich bislang nicht wahrgenommen hatte.
    Ich blickte in ihre schmalen, von Fleischwulsten umlagerten Augen und fragte: »Was ist mit den Kindern, die in den vergangenen Tagen starben? Wer hat sie ermordet? Ebenfalls dein Bruder?«
    Sie musterte mich eingehend. »Warum hätte er das tun sollen?«
    »Wenn nicht er, wer war es dann?«
    Sie kam noch näher. »Weißt du es nicht selbst am besten?«
    Was ich seit meiner Ankunft auf dem Friedhof an Zuneigung verspürt hatte, löste sich mit einem Schlag in Nichts auf. Übrig blieb allein die schreckliche Ahnung, daß sie alle recht hatten, so ungeheuerlich, so entsetzlich die Wahrheit auch sein mochte.
    Ich senkte den Blick, schüttelte dann den Kopf, um meine Gedanken zu klären, und fragte statt einer Antwort: »Was soll ich tun?«
    Die Wodan-Priesterin holte tief Luft und wandte sich abrupt ab, mit einer Behendigkeit, die ich ihr nicht zugetraut hatte. »Geh zum Herzog. Sprich mit ihm. Erkläre ihm unsere Unschuld. Du kannst ihm sagen, was du über Gunthar weißt. Doch gib acht, daß das Wort meines Bruders nicht schwerer wiegt als deines.«
    »Und weiter?«
    »Verlasse Hameln. Geh fort von hier, weit fort. Dorthin, wo niemand dich kennt. Besuche Dante in Florenz. Und bete, daß dort nicht Ähnliches geschieht. Die Südländer sind bekannt für ihre guten Ärzte. Vielleicht können sie dir die Hilfe geben, die du brauchst.«
    Ich schloß die Augen und ließ die Dunkelheit in meinen Schädel fluten. »Wann soll ich gehen?«
    »Im Morgengrauen«, erwiderte sie. »Während der Nacht wird man dich ohnehin kaum zum Herzog vorlassen. Nicht so, wie du aussiehst.«
    Ich blickte an mir herab. Von meiner Kleidung war kaum mehr geblieben als schmutzige Lumpen. »Habt ihr saubere Sachen für mich?«
    Sie nickte. »Sicher. Aber vorher schlaf ein wenig. Du hast die Ruhe nötig.«
    »Hier?«
    »Am Eingang stehen Wachen. Du bist hier unten sicher. Niemand wird dir etwas zuleide tun.«
    Ich wußte, was das bedeutete. Ich hatte ein Gefängnis gegen ein anderes getauscht. Liutbirg würde nicht zulassen, daß ich mich frei auf dem Friedhof bewegte. Auch

Weitere Kostenlose Bücher