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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ihnen von den Winden aus dem Boden gezerrt und davongewirbelt wurden. Niemand dort draußen würde in dieser Nacht ein Auge zutun. Es war nicht abzusehen, welche Folgen das Unwetter für das morgige Mysterienspiel haben würde. Ich bemühte mich, durchs Fenster einen Blick auf die Bühne zu werfen, doch der Regen peitschte in dichten Schlieren über den Markt, und die nächtliche Finsternis tat ein übriges, die Sicht zu verschleiern. Nur ein einziges Mal vermochte ich, etwas zu erkennen: Ein Blitzgeäst durchschnitt den Himmel und tauchte die Bühne in fahles Weiß. In seinem Licht wirkte das Gerüst wie ein heidnischer Knochenaltar.
    Ich dachte an die toten Kinder in ihren Grüften, an das Labyrinth aus Rattengängen, welches die Gräber durchzog. Bei diesem Wetter würden sich Tausende der Aasfresser dort unten verkriechen und zum Festmahl vereinen.
    Ich legte mich auf dem feuchten Lager nieder und gab mir alle Mühe zu schlafen. Es muß mir, wenigstens für einen Augenblick, gelungen sein, denn ein besonders lauter Donner ließ mich plötzlich erschrocken auffahren. Jemand stand neben mir und griff nach meiner Hand.
    »Hoch mit Euch!« zischte eine Stimme.
    Da begriff ich, daß das Geräusch kein Donner gewesen war. Jemand hatte die Tür aufgestoßen, so daß sie unter Getöse gegen die Mauer gekracht war.
    Ich blickte auf und erkannte in der Dunkelheit ein hartes Männergesicht, das mir vollkommen fremd war.
    »Nun kommt schon«, trieb mich der Kerl von neuem an.
    Als ich immer noch mit meiner Benommenheit kämpfte, riß er mich kurzerhand nach oben. »Wir haben keine Zeit zu warten, bis Ihr Euch von aller Unbill erholt habt«, brummte der Mann voller Ungeduld und zog mich zur Tür. Draußen stand ein zweiter Unbekannter mit einer Fackel.
    »Wer seid Ihr?« fragte ich benommen.
    »Eure Freunde«, gab man mir zur Antwort und stieß mich weiter den Gang entlang. In der Folterkammer lagen die beiden Kerkerknechte mit durchschnittenen Kehlen. Ihr Blut pulste noch in schwachen Stößen aus den klaffenden Hälsen. Ein dritter Toter, einer der beiden Wächter am äußeren Verliestor, lag nahe der Treppe. Man hatte seine Leiche achtlos die Stufen hinabgestoßen. Weiter oben, kurz vor dem Ausgang, hing der Leichnam des zweiten Wachtpostens. Kopf und Arme baumelten über die geländerlose Seitenkante der Treppe. Sein Blut floß in einem fremdartigen Muster die Mauer herab und hatte fast schon den Boden erreicht. Er mußte als erster gestorben sein.
    »Sagt mir, wer Ihr seid«, verlangte ich erneut von meinen wortkargen Rettern.
    »Wodans Zorn«, sagte einer, ohne mich anzusehen, und eilte als erster die Stufen hinauf.
    Liutbirg! schoß es mir durch den Kopf, während ich den beiden folgte. Ihre Worte fielen mir ein: Wodan wird den Sturm über diese Stadt bringen. An der Spitze seiner wilden Jagd wird er durch die Gassen preschen und die Schuldigen mit sich nehmen. Weshalb aber setzte die Priesterin das Leben ihrer Leute für das meine aufs Spiel?
    Die Antwort auf diese Frage mußte Zeit haben bis später. Erst galt es, endgültig aus dem Verlies zu entkommen.
    Wir erreichten den Ausgang und liefen hinaus auf den Markt. Der Sturm riß mit unsichtbaren Händen an meinen Gliedern, und ich mußte die Augen wegen des prasselnden Regens fast schließen. Blindlings folgte ich den Männern zum Rande des Bausumpfes. Einmal sah ich mich um und erkannte, daß rund um die Mysterienbühne zahlreiche Gestalten Aufstellung bezogen hatten, als sei es von Nutzen, Wachtposten gegen das Wetter aufzuziehen. Dann aber erkannte ich, daß die Männer und Frauen eine Eimerkette von der Bühne bis zum nächstliegenden Brunnen gebildet hatten. Von Wetterau hatte wahrlich an alles gedacht; falls wirklich der Blitz in das hölzerne Gerüst einschlagen sollte, waren die Retter gleich zur Stelle. Der Probst war nicht bereit, auch nur die Spur einer Gefahr außer acht zu lassen.
    Zu unserem Glück beschäftigte von Wetteraus Wachsamkeit die Menschen vollauf, so daß niemand mein Entkommen bemerkte. Die Männer und Frauen, die dort frierend im Gewitter ausharrten, hatten wahrlich andere Sorgen.
    So durchquerten wir ungestört das schwarze Gelände der Bauruinen, stapften kniehoch durch Schlamm und Wasserlöcher, bis wir die befestigte Straße am Ufer der Weser erreichten. Ihr folgten wir nach Süden bis zur Brücke.
    »Geht gebückt, während wir den Fluß überqueren«, rief einer meiner Führer durch den tosenden Sturm, »sonst erschlägt Euch noch

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