Der Rattenzauber
mich abrupt von ihm und fragte: »Wo sind die Wachen?«
»Sie schlafen«, erwiderte Dante, doch er ließ sich keine Zeit, die Worte zu erläutern. »Wir müssen fort von hier.«
»Wie seid Ihr überhaupt hereingekommen?« fragte ich, während ich hinter ihm und dem seltsamen Spielmann aus der Zelle taumelte.
Dantes Miene verhieß Bitterkeit. »Auf dem selben Weg wie Ihr, teurer Freund – nur ein wenig früher.«
Fassungslos starrte ich ihn an. »Ihr wart während der ganzen Zeit im Kerker?«
Er nickte. »Ich schrieb den Brief an Euch und verließ die Herberge, um nach Süden zu reiten. Doch ich kam nicht einmal bis zum Stadttor. Von Wetteraus Männer fingen mich ab und steckten mich in dieses Loch. Hier unten traf ich den Spielmann.«
Die dürre Gestalt an unserer Seite grinste zahnlos. Als er sprach, waren seine Worte kaum zu verstehen.
»Bin seit Monaten hier. Verhaftet, eingesperrt auf ewig. Seit die Kinder starben.«
Ich wartete auf weitere Erklärungen, doch der Mann schwieg und eilte mit uns den Gewölbegang hinunter.
Dante bemerkte meine Neugier und sagte: »Er ist nicht allzu gesprächig, doch ohne ihn säßen wir beide noch in unseren Löchern. Ihr werdet kaum glauben, mein Freund, wie wir aneinandergerieten, heute morgen erst. Plötzlich brachen Steine aus der Wand meiner Zelle, und der Spielmann stand neben mir. Die Wände dieses Kellers sind feucht und schlecht gemauert. Diesem dreisten Kerl ist es gelungen, einige Steine zu lockern. Als wir schließlich zu zweit waren, war es nicht schwierig, die beiden Wächter zu übertölpeln. Ich rief einen herein, und unser Gefährte schlug ihm von hinten einen Stein über den Schädel. Mit dem zweiten ging es ähnlich, beide liegen in meiner Zelle. Als wir uns umsahen, bemerkten wir, daß nur ein weiteres Verlies belegt war. Da ahnte ich schon, daß Ihr der neue Nachbar seid. Und, wie Gott es will, hier sind wir wieder vereint.«
Ich mühte mir ein Lächeln ab und deutete auf den Spielmann, der jetzt einige Schritte vor uns ging: »Hat er keinen Namen? Wo kommt er her?«
»Einen Namen?« fragte Dante. »Den wird er haben, aber verraten hat er ihn nicht. Er spricht nicht viel. Bedenkt, daß ich ihn kaum länger kenne als Ihr selbst. Seine Einkerkerung scheint mit dem Verschwinden der Kinder einherzugehen.«
Wir hatten jetzt den großen Vorraum erreicht, von dem aus eine Treppe nach oben führte. Die Tür an ihrem Ende war geschlossen. Um uns herum standen zahllose Foltergeräte. Peitschen und Kettengeißeln, Faßpranger und Brustkrallen, Streckbank und Rad; Hamelns Kerker war gut bestückt. Der Gedanke, all dem zu entgehen, beflügelte meine Schritte, als wir zur Treppe eilten.
»Wie wollen wir an den Wachmännern vorm Rathaus vorbeigelangen?« fragte ich, während wir die Stufen erklommen.
Dante schnaubte. »Woher soll ich das wissen? Ich bin Student und Dichter, kein Krieger, und – glaubt mir – in der Kunst der Kerkerflucht wenig bewandert. Ihr seid der Ritter, mein Freund. Nun beweist uns Eure Kampfkraft.«
Das hatte er sich freilich fein ausgedacht. Dante hatte uns befreit, mir oblag alles weitere. Für ihn ging diese Rechnung herrlich auf. Ich unterdrückte einen Widerspruch und lenkte mein Augenmerk auf das, was noch bevorstand. Unsere Lage war aussichtslos – drei Männer gegen eine ganze Stadt –, und ich sah uns schon wieder im Kerker darben. Doch was blieb mir, als mich darauf einzulassen?
Der Spielmann wollte die Tür öffnen. Ich hielt ihn im letzten Augenblick zurück. »Wartet!« zischte ich und rannte noch einmal die Stufen hinunter.
Im Folterkeller sah ich mich suchend um, entdeckte zwei Eisenspieße und ein Kurzschwert und lief alsdann mit meinem Fund erneut nach oben. Das Schwert behielt ich selbst, die Spieße reichte ich den Gefährten. Beide blickten die Waffen verständnislos an.
»Nun«, brachte Dante kleinlaut hervor, »Ihr mögt ja damit umzugehen wissen. Ich selbst leider nicht. Und ich fürchte, den Kampf müßt Ihr allein übernehmen.«
Der Spielmann schloß sich dieser Meinung nickend an.
»Wunderbar«, brummte ich, schob beide barsch zur Seite und öffnete ohne weiteres Zögern die Tür. Das Glück war uns hold, denn die beiden Wachmänner, die von außen auf den kleinen Kerker achtgaben, standen einige Schritte entfernt und unterhielten sich mit einem jungen Marktweib. Ich trieb Dante und den Spielmann zur Eile. Die beiden eilten davon und überquerten unbemerkt die kurze Strecke bis zum Rand des Bausumpfs.
Weitere Kostenlose Bücher