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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Ich selbst hielt mich damit auf, die Tür so leise als möglich zuzuziehen, damit unsere Flucht länger unentdeckt bliebe. Doch als ich ansetzte, den Freunden zu folgen, kreischte das Weibsbild auf und zeigte mit dem Finger auf mich. Sogleich fuhren die Wächter herum und drangen Schwerter schwingend auf mich ein. Die Entbehrungen der vergangenen Tage hatten mich entkräftet. Es war unmöglich, zwei Gegnern gleichzeitig standzuhalten. Ich parierte ihre ersten Attacken, dann gab ich mich geschlagen.
    Ich warf Dante und dem Spielmann einen letzten Blick hinterher, doch sie waren schon verschwunden. Während man mich entwaffnete, wünschte ich den Gefährten schweigend Glück. Dann ließ ich mich hinab in den Kerker führen.
    Was war Traum, was Wirklichkeit?
    Der Rattenkönig erwartete mich und peitschte hämisch mit den Schwänzen.

    ***
    Wimpel und Fahnen flatterten im Wind. Rüstzeug rieb klirrend aneinander. Pferdehufe klapperten auf Pflastersteinen. Immer wieder gellten Hochrufe über den Platz. Vor dem Rathaus spielten Musikanten, fiedelten und sangen so laut sie nur konnten. Das gemeine Volk drängte sich am Rande des Marktes, brüllte, lachte, als trübe nichts sein reines Gewissen. Die Stimmung war auf dem Höhepunkt, man tobte und tanzte sich die Schuld von der Seele.
    Herzog Heinrich und sein Gefolge ritten ein, und es war ein Anblick von grenzenloser Wonne und Pracht. Durch einen Tränenschleier sah ich zu, wie die hohen Herren und Damen auf ihren Rössern an meinem Kerkerloch vorüberzogen. Die Hufe stampften nur eine Armlänge entfernt über den Boden. Schmutz spritzte durch das Gitter in mein Gesicht, und doch konnte ich den Blick nicht abwenden, hing glotzend an den Eisenstäben, die Finger verkrallt, die Züge verzerrt. Meine Augen suchten Althea, doch sie war nirgends in dem Trubel zu entdecken. Die schöne Astrologin mußte an der Seite des Herzogs reiten, vorne an der Spitze des Zuges, die längst an mir vorübergezogen war.
    An die vierzig Höflinge und Ritter begleiteten meinen Herrn. Viele erkannte ich. Ich sah Freunde und Gefährten, vertraute Gesichter, die nicht ahnten, welches Leid mir widerfuhr. Sie zu rufen war zwecklos. Niemand würde meine Schreie hören. Der Probst hatte es nicht für nötig befunden, mich zu knebeln oder mir anderweitig das Mundwerk zu stopfen. Der Hohn, der in solch falscher Freiheit lag, war mit das schlimmste aller Greuel.
    Das wahre Gaukelspiel war nicht das Mysterium in seinem biblischen Pomp, sondern die kunstvolle Fassade der Hamelner Bürger. Da jubelten sie einem entgegen, der ihnen weniger als nichts bedeutete. All ihre Demut galt allein dem Bischof, das hatte man mir unmißverständlich zu verstehen gegeben. Trotzdem feierten die Männer und Frauen den Herzog und die seinen, als gelte es, sie von Plünderungen abzuhalten. Ich zweifelte nicht, daß mein Herr ihren freudigen Mienen, ihren Rufen und gereckten Händen Glauben schenkte. Es war so einfach, ihn gnädig zu stimmen.
    Dabei war der Jubel auf dem Markt nicht einmal die größte Verstellung der Hamelner Brut. Ihre Kinder lagen unweit der Feier in einer stinkenden Gruft. Und keiner war unter ihnen, der offen um sie trauerte. Keiner, der mir in all den Tagen hatte sagen wollen, was geschehen war. Von Wetteraus Wort war ihr Gesetz. Für sein Wohl taten sie alles!
    Noch immer wußte ich nicht, was den Kindern zugestoßen war. Und es mochte nur in von Wetteraus Sinne sein, daß niemand je die Wahrheit erfuhr. Er wußte, daß die Bürger der Stadt ihr Schweigen nicht brachen, mehr noch, sie fieberten dem großen heiligen Spiel entgegen, das der Probst für sein und ihr Seelenheil gab.
    Und seine Sünden? Wer sah seine Sünden?
    Nur Gott. Und der war längst verstummt.
      
      
      

    KAPITEL 9
    In der Nacht brach ein Unwetter von solcher Gewalt über das Land herein, als hätte jemand unseren heiligen Gott erzürnt. Das Heulen des Windes übertönte selbst die Donnerschläge, und das gleißende Flimmern der Blitze sprühte weißes Eislicht in mein Verlies. Ich glaubte, das Rathaus über mir ächzen zu hören. Seine Wände und Balken stemmten sich gegen die grausame Macht des Sturms und mühten sich, den eisigen Klauen Widerstand zu leisten.
    Der Herzog mußte, ganz nach üblicher Sitte, in einer Zeltstadt vor den Toren Quartier bezogen haben. Sein Troß war zu groß, um alle Männer und Frauen in Hameln unterzubringen. Zelte waren demnach die einzige Möglichkeit, und ich konnte nur erahnen, wie viele von

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