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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Waffenschmied. Dann nickte sie. »Das hat es. Und es ist sogar ein großer Teil Wahrheit daran, daß die Kinder zur Hölle fuhren.«
    »Dann hatte Dante recht«, flüsterte ich, mehr zu mir selbst.
    »Allerdings«, sagte Liutbirg und überraschte mich erneut. Sie schien den Florentiner zu kennen. »Wenn auch in anderem Sinne, als er glaubte. Es gibt keinen Eingang zum Reich des Leibhaftigen im Kopfelberg, zumindest ist mir keiner bekannt.« Sie lächelte und entblößte gelbe Zahnreihen. »Trotzdem verschlug es die Kinder an einen Ort, welcher der Hölle durchaus ähnlich ist – in gewisser Weise.«
    »Es gibt keinen Grund mehr, in Rätseln zu sprechen«, sagte plötzlich eine Stimme aus dem Hintergrund, und ich erkannte sie gleich am schweren Akzent.
    »Dante!« entfuhr es mir, noch ehe ich ihn sah. Ich wirbelte herum. Der junge Dichter stand breitbeinig im Eingang der Gruft. Das flackernde Kerzenlicht ließ sein schmales Gesicht noch eingefallener und ungesünder wirken.
    Wir eilten aufeinander zu und umarmten uns zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden, ganz so, als wären wir seit Jahren Freunde und hätten uns lange Zeit nicht mehr gesehen. Meine Erleichterung ihn hier und in Sicherheit zu wissen war noch größer als das Glücksgefühl, das ich verspürt hatte, als ihm die Flucht aus dem Kerker gelang.
    »Ihr habt Liutbirg dazu gebracht, mich aus dem Verlies zu befreien.« Plötzlich begriff ich einige Zusammenhänge.
    Er nickte zögernd. »Es ist wahr, daß ich mich sofort auf den Weg hierher machte. Ihr hattet mir und dem Spielmann die Flucht ermöglicht – wie hätte ich da tatenlos verschwinden können? Aber es ist falsch, daß die ehrwürdige Liutbirg nur auf meinen Wunsch hin handelte.«
    »Weshalb hätte ich das auch tun sollen?« meldete sich die heidnische Priesterin zu Wort, doch mein Blick verharrte auf Dante.
    »Ich glaube«, fuhr er fort, »Euer Leben ist ihr ebenso teuer wie mir. Wenn auch aus anderen Gründen.«
    Daraufhin wandte ich mich doch noch zur Priesterin um. »Und welche sind das?«
    »Ich hege ähnliche Pläne wie mein Bruder«, sagte sie. »Ich will, daß du zum Herzog zurückkehrst und ihn von unserer Unschuld überzeugst. Denn ich weiß, daß Gunthar seine Pläne nicht aufgeben wird. Im Gegenteil: Er wird dem Herzog so lange zusetzen, bis auch er glaubt, daß wir die Kinder getötet haben. Und dann ist unser Schicksal besiegelt, ganz gleich, ob dieser Ort ein Friedhof ist und wir vor dem Gesetz hier sicher sein müßten.« Sie senkte bekümmert den Kopf, so daß ihr Doppelkinn hervorquoll wie ein Kröpf. »Du bist der einzige, auf den der Herzog hören wird.«
    Ihre Verzweiflung rührte mich, und ich wußte, daß sie recht hatte. Gunthar von Wetterau würde niemals von seinem Vorhaben ablassen. Er dachte an sein Seelenheil und seine Heiligsprechung, und er betrieb zugleich die Vernichtung der Wodan-Jünger mit aller Macht. Ich ahnte, daß Heinrich ihm glauben würde.
    »Ich werde für euch zum Herzog gehen – wenn du mir endlich die Wahrheit sagst. Ohne Rätsel und Ausflüchte.« Ich trat einen Schritt auf sie zu. »Was ist wirklich vor drei Monaten in Hameln geschehen?«
    »Es war ein Unglück«, erwiderte Liutbirg zögernd. »Niemand hat gewollt, daß die Kinder sterben, wenngleich es einen – nein, zwei – Schuldige gibt. Es geschah, als das Mysterienspiel begonnen hatte. Mein Bruder hatte alle Jungen und Mädchen auf der Bühne versammelt, um Herodes’ Mord an den Kindern Bethlehems nachzuvollziehen. Du hast gesehen, wie die Bühne aufgeteilt ist? Oben der Himmel, in der Mitte die Erde …«
    »… und unten die Hölle.« Allmählich begann ich zu begreifen.
    Liutbirg nickte. »Unten die Hölle. Der Baumeister der Bühne hatte sich etwas Besonderes einfallen lassen, um dieses Spektakel so imposant wie möglich zu gestalten. Sämtliche Balken im unteren Teil waren mit Wasser getränkt, was es erlauben sollte, am Boden mehrere Feuer zu entfachen. All das, damit die Hölle dem Bild eurer Pfaffen entspricht.«
    Ich ahnte jetzt, was geschehen war. Ich sah aufgeregt hinüber zu Dante, doch der Florentiner blieb ruhig. Liutbirg hatte ihm die Geschichte bereits erzählt.
    Die Priesterin fuhr fort: »Die Kinder – mit Ausnahme jener, die an körperlichen oder geistigen Gebrechen litten – hatten sich auf der Bühne versammelt. Alles war bereit. Das Spiel sollte jeden Augenblick beginnen. Die Bürger der Stadt standen auf dem Marktplatz, um zuzuschauen. Die Spielleute

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