Der Rattenzauber
unter den Wodan-Jüngern gab es Kinder.
Nachdem sie gegangen war, rollte ich mich in einer Ecke am Boden zusammen. Ich hätte Liutbirgs Lager benutzen können, doch allein der Gedanke, daß ihr fetter Leib dort gelegen und ihren sauren Schweiß verbreitet hatte, ließ mich vor Ekel erschaudern. Trotz des kalten Steins gelang es mir, Zuflucht in einem diffusen, traumschweren Halbschlaf zu finden.
Als ich erwachte, lagen vor mir ein sauberes Wams und frische Beinkleider. Dazu hatte man mir einen schmalen Dolch mit langer Klinge und ein paar abgetragener Stiefel gebracht. Liutbirg saß auf ihren Fellen und blickte mich an.
»Zeit zu gehen«, sagte sie.
Ich kämpfte mich auf die Füße und begann, ohne Scham vor ihren Augen die Kleidung zu wechseln. Doch wahre Nacktheit spürte ich nur in meinem Inneren. Liutbirg schenkte meiner Blöße keine Beachtung.
Als ich fertig war, fragte ich sie: »Wie willst du verhindern, daß ich mich auf dem schnellsten Weg davonmache?«
Sie lächelte, und es wirkte beinahe gütig. »Du magst eine dunkle Seite in dir haben, Robert von Thalstein. Aber du bist auch ein Ritter, einer der einen Schwur auf Ehre und Gewissen geleistet hat. Du wirst nicht zulassen, daß Dutzende Menschen grundlos sterben – nicht, wenn du es verhindern kannst.«
Ich ging ohne Abschied und ließ mich von zwei Männern zum Rande des Friedhofs begleiten. Dort wünschten sie mir Glück und kehrten zurück zu den ihren. Von da an war ich auf mich allein gestellt.
Ich fand nach einiger Umschau die Spur, die Dantes Pferd ins Unterholz geschlagen hatte, und beschloß, ihr zu folgen. Ich hätte den ausgetretenen Pfad nehmen können, der geradewegs zur Heerstraße hinunterführte, doch etwas sagte mir, daß es nicht klug sei, auf geheimer Mission den offensichtlichsten aller Wege zu nehmen. So schlug ich mich durchs Dickicht, umrundete steile Gefalle und blieb immer wieder in scharfen Dornenranken hängen, die meinen Abstieg erheblich erschwerten. Unter dem Dach des vergilbenden Herbstlaubes herrschte noch Dunkelheit, obgleich ich durch Lücken im Geäst erkennen konnte, daß außerhalb des Waldes der Morgen graute. Nicht mehr lange, und das erste Licht des Tages würde auch meinen Weg erleichtern.
Da vernahm ich leise Geräusche. Ein Knacken von brechendem Holz, ganz in meiner Nähe, das sich in kurzen Abständen wiederholte.
Schritte! fuhr es mir lodernd durch den Sinn.
Ich blieb stehen, hörte auf zu atmen. Schloß die Augen und horchte.
Es waren mehrere. Vier, fünf Menschen, die sich durchs Unterholz zwängten. Sie bewegten sich langsam, als wollten sie unbemerkt bleiben. Und je länger ich auf ihre Schritte und ihren stoßweisen Atem lauschte, desto mehr von ihnen wurden es. Aus fünf wurden acht, daraus ein Dutzend. Und ihre Zahl wuchs weiter. Es schien, als sei der ganze Wald zu wimmelndem Leben erwacht.
Es gab nur eines, was das bedeuten konnte.
Gunthar hatte schneller gehandelt, als wir alle erwartet hatten. Der Herzog war seinen Einflüsterungen noch in der Nacht verfallen und hatte sein Gefolge in Gang gesetzt. Ritter und Landsknechte waren auf dem Weg zum Friedhof, um dem heidnischen Treiben ein Ende zu setzen. Die Wodan-Jünger waren längst verloren.
Langsam ging ich hinter einem Baum in die Hocke. Jetzt konnte ich einen von ihnen sehen. Es war ein Krieger des Herzogs, der sich mit gezogenem Schwert einen Weg durch Äste und Buschwerk bahnte. Er mochte etwa zehn Schritte von mir entfernt sein. Heinrichs Befehlshaber ließen ihre Männer in einer weiten Kette den Berg hinaufsteigen, um die Wodan-Jünger wie wehrloses Wild in die Enge zu treiben.
Verzweiflung bemächtigte sich meiner. Ich wollte aufschreien und loslaufen, Liutbirg und ihre Getreuen vor dem Verderben warnen, das langsam den Berg heraufkroch; ich wollte zu ihnen eilen und ihnen im Kampf gegen die Übermacht beistehen. Doch welchen Sinn hätte das gehabt? Ich wäre als Verräter von meinen eigenen Leuten getötet worden.
Die einzige Möglichkeit, die mir blieb, war, den einmal gefaßten Plan zu Ende zu bringen. Ich mußte die Reihe der Soldaten durchbrechen und hinab ins Tal zum Herzog, nein besser noch zu Althea eilen. Sie würde meinen Worten Glauben schenken und sich bei Heinrich für die Wodan-Jünger einsetzen. Vielleicht ließ sich so das bevorstehende Schlachtfest auf dem Friedhof verhindern.
Aber ich mußte schnell sein. Der Weg nach Hameln war nicht weit, doch zu allem Übel mußte ich ins Lager des Herzogs gelangen,
Weitere Kostenlose Bücher