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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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schwieriger noch, in Altheas Zelt. Unsere Treffen hatten stets im geheimen stattgefunden, niemals vor aller Augen. Man würde mich nicht zu ihr vorlassen – falls ich zuvor nicht ohnehin als gesuchter Mörder gefangen und eingesperrt wurde.
    Hastig schlich ich weiter. Angst schnitt mir mit scharfen Krallen ins Herz. Panik regierte meinen Verstand. Ich spürte, wie meine Glieder sich wie von selbst bewegten, als gehorchten sie nicht meinem Willen, sondern allein der Zielsetzung, ins Tal zu gelangen. Nun lag das Leben Dutzender Menschen wahrhaftig allein in meiner Hand.
    Ich weiß nicht, ob es die Verantwortung war, die mich all meiner Vorsicht beraubte.
    Plötzlich wuchs neben mir eine Gestalt aus dem Dunkel. Ich sah noch, wie sie ausholte, warf mich vergeblich zur Seite. Da traf mich etwas mit Wucht am Schädel, und ein höllischer Schmerz raubte mir die Sinne.
    ***
    Ein stechender Geruch nach Feuer und Gebratenem weckte mich aus meiner Ohnmacht. Ich blickte auf und sah in das Gesicht eines Jungen. Seine Züge muteten mich bekannt an, doch ehe ich noch über die Gründe meiner Gewißheit grübeln konnte, kam die Erinnerung mit all ihrer Macht über mich.
    Benommen riß ich den Oberkörper hoch und versuchte, auf die Beine zu kommen.
    »Herr!« rief der Junge besorgt. »Nicht, Herr! Ihr müßt noch eine Weile ruhen. Euer Kopf –«
    »Schweig!« fuhr ich ihn an, denn nun wußte ich, woher ich ihn kannte. Es war ein Knappe aus dem Hofstaat des Herzogs, und nach dem Knüppel zu schließen, der zu seinen Füßen lag, war er derjenige, der mich niedergeschlagen hatte.
    Düsteres Tageslicht fiel durch die Baumkronen. Ich mußte eine ganze Weile am Boden gelegen haben.
    »Ich dachte, Ihr wärt einer von ihnen«, verteidigte sich der Junge. Offenbar hatte er mich als Ritter erkannt.
    »Ihr wart zu weit vorn«, plapperte er weiter. »Wie konnte ich ahnen, daß Ihr es seid, wo doch der Befehl lautete, in einer Reihe zu bleiben. Ich sah Euch hinter dem Baum, glaubte, Ihr wärt ein Angreifer und schlug –«
    »Schweig still!« rief ich erbost. Ich versuchte, das Dickicht mit Blicken zu durchdringen, doch alles, was ich sah, waren das wildwuchernde Unterholz und ein feiner, grauer Nebel.
    Plötzlich hörte ich die Schreie. Frauen, Männer und Kinder, die um ihr Leben brüllten, weiter oben im Wald.
    »Gütiger Gott, was geschieht da?« fragte ich den Knappen.
    Als er mich nur erstaunt ansah, packte ich ihn an den Schultern, versetzte ihm eine schallende Ohrfeige und zischte: » Was geschieht dort oben? «
    »Aber, Herr«, stammelte er verstört, »Ihr wißt es doch.«
    »Was weiß ich?«
    »Ihr kennt den Befehl des Herzogs. Ihr seid doch mit uns gemeinsam aufgebrochen, oder?« Waren da leise Zweifel in seiner Stimme? Ich prügelte sie ihm mit zwei Faustschlägen aus dem Sinn.
    Heulend, das Gesicht voller Rotz und Tränen, ging er auf die Knie. »Ich habe … ich habe Strafe verdient, Herr. Ich habe Euch geschlagen, einen Ritter des Herzogs. Aber, bitte, habt Gnade mit mir. Meldet es meinem Meister, aber prügelt mich nicht weiter.«
    »Ich werde dir den Schädel einschlagen, wenn du mir nicht bald eine Antwort gibst«, fuhr ich ihn an. »Was geschieht dort oben?«
    Er wischte sich die Tränen aus den Augen. »Sie verbrennen sie, Herr. Sie verbrennen sie alle.«
    Fassungslos starrte ich auf die undurchdringliche Wand aus Holz und Blättern. Der Rauch, die Schreie. Kein Zweifel. Die Wodan-Jünger brannten.
    Meine erste Regung war, den Berg hinauf zu rennen, ganz gleich, was mich oben auf dem Friedhof erwarten mochte. Schon hatte ich einige Schritte gemacht, als ich mich schlagartig eines Besseren besann. Es war zwecklos. Dort oben konnte ich nichts tun. Die einzige Chance, wenigstens einige der Menschen zu retten, war so schnell wie möglich zu Althea und zum Herzog zu gelangen.
    Ich drehte mich um und lief den Berg hinab.
    »Herr, was tut Ihr?« rief mir der jammernde Knappe hinterher, doch ich schenkte ihm keine Beachtung.
    Ich mußte schnell sein. So schnell wie noch nie in meinem Leben. Ich brach durch Büsche und Geäst, zerschnitt mir Gesicht und Kleidung, stolperte, fiel, rappelte mich wieder auf und eilte weiter, immer weiter dem Tal entgegen.
    Ich erreichte den Waldrand, lief den Pfad und die Heerstraße entlang zur Brücke und überquerte den Fluß. Ich hatte das andere Ufer erreicht, als mir klar wurde, welch tödlichen Fehler ich beging. Ich lief dem Feind direkt in die Arme. Von Wetterau und seine Leute würden mich

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