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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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auf der Stelle töten.
    Auf der Straße war niemand zu sehen. Das Mysterienspiel hatte bereits begonnen. Jeder Einwohner Hamelns befand sich auf dem Marktplatz.
    Ich brauchte dringend einen Mantel, irgend etwas, das zumindest den gröbsten Blicken standhielt. Ich trat kurzerhand die Tür des nächstliegenden Hauses ein, stürmte ins erstbeste Zimmer und wühlte solange in einer schweren Eichentruhe, bis ich einen Kapuzenmantel und ein dichtes Fell entdeckte. Beides warf ich mir über die Schultern und trat zurück ins Freie. Dabei fiel mein Blick auf den Berg am anderen Ufer.
    Aus dem Wald stieg schwarzer Rauch und verteilte sich am grauen Himmel. Ich bezweifelte, daß die Männer des Herzogs sich die Mühe gemacht hatten, Scheiterhaufen aufzuschichten. Wahrscheinlich hatte man die Bewohner des Friedhofs in einigen Grüften zusammengetrieben und im Inneren Feuer entfacht. So starben die Kinder mit den Erwachsenen. Keiner der Ketzerbrut würde überleben. Von Wetterau hatte allen Grund zur Freude.
    Voller Abscheu und mit heißen Tränen in den Augen wandte ich mich vom Anblick der Rauchwolke ab und eilte Richtung Marktplatz. Auf meinem Weg dorthin traf ich keine Seele. Die Stadt war wie ausgestorben. Westwind wehte den Rauch der Menschenfeuer hinab über die Dächer und Ruinen. Der Geruch war der eines Festmahls im Freien, nach erfolgreicher Jagd in den Wäldern. Der Gedanke erfüllte mich mit Übelkeit und Haß.
    Als ich den Markt fast erreicht hatte, quoll mir der Lärm zahlloser Menschen entgegen. Der Platz war erfüllt vom frohen Geist des Mysterienspiels. Spielleute machten Musik, die Menschen feierten und lachten, aßen Gebratenes und tranken Bier, während auf der anderen Seite des Flusses die Ketzer in den Flammen starben. Offenbar ahnte niemand etwas von der entsetzlichen Abschlachterei auf dem Friedhof; der eine oder andere hätte das Spiel sicherlich Spiel sein lassen und sich dem Reiz der grausamen Wirklichkeit zugewandt. Selbst das hatte von Wetterau bedacht. Er ließ seine Schwester und deren Getreue ermorden und sorgte doch zugleich dafür, daß ihm keiner der Zuschauer abhanden kam.
    Ich trat an den äußeren Rand des Marktes und warf einen ersten Blick auf die Bühne. Zahllose Männer und Frauen hatten sich darauf versammelt, Himmel und Hölle waren gleichsam bevölkert. Um die drei Kreuze im Mittelteil der Bühne sammelten sich Dutzende von Menschen, einige in nachgefertigten Rüstungen aus Holz. Sie stellten die römischen Soldaten dar, der Rest gab das Volk der Juden.
    Der größte Hohn aber war von Wetterau selbst, der vor dem mittleren und größten der drei Kreuze stand. Er trug ein weißes Büßergewand. Auf seinem Kopf thronte ein geflochtenes Band – die Dornenkrone. Er ging sichtlich in seiner Rolle als Heiland auf, blickte abwechselnd mit Leidensmiene und väterlichem Verständnis über die Menge und harrte seiner Hinrichtung am Kreuz.
    Der Darsteller Gottvaters im künstlichen Himmel fluchte lautstark und schleuderte Blitze aus Holz hinab in die Tiefe. Derweil begossen einige seiner falschen Engel die Menschen aus riesigen Fässern mit Wasser. So also stellte der Probst sich das Unwetter auf Golgatha vor. Wenn es eines gab, das dem abscheulichen Schauspiel den Rest gab, so war es von Wetteraus Mangel an Einfallsreichtum und Geschmack.
    Die Menge aber nahm es gelassen und erfreute sich angesichts der gebotenen Attraktionen. Immer wieder kamen Beifall und Hochrufe auf, vor allem dann, wenn ein besonders heftiger Wasserschwall einen der irdischen Darsteller tränkte.
    Auf der anderen Seite des Platzes, gleich vor der Mauer des Rathauses, hatte man eine Tribüne errichtet. Ich hatte sie aus meinem Verlies heraus nicht sehen können, daher überraschte mich der ungewohnte Anblick. Rechts hockte auf Sitzbänken der Hofstaat des Herzogs, links das Gefolge des Bischofs. Die beiden Würdenträger saßen unter samtenen, wappengeschmückten Baldachinen, umgeben von ihren engsten Getreuen. An der Seite des Bischofs von Minden erkannte ich den Hamelner Vogt, Ludwig von Everstein, der den Geistlichen selbst eskortiert hatte. Um Herzog Heinrich drängten sich so viele Menschen, daß es unmöglich war, unter ihnen Altheas Gesicht zu erkennen.
    Bestimmt, aber doch so unauffällig wie möglich, schob ich mich durch die jauchzende Menschenmenge. Niemand beachtete mich. Alle waren vollauf mit dem Mysterium und dem Genuß ihrer Speisen und Getränken beschäftigt. Schwitzende, schmutzige Leibe rieben an

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