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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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die Kehle rinnen. »Nicht alles, was sich Zauber nennt, wirkt auf den Wegen des Übersinnlichen, mein Freund, und doch kann es seine Wirkung tun. Der Glaube daran bewirkt das Wunder, nicht das hier …« Er deutete mit abfälliger Miene auf den Inhalt des Beutels, dann fegte er ihn mit einer harschen Handbewegung vom Tisch. Der Rattenkönig verschwand irgendwo am Boden.
    »Mögt Ihr nicht trinken?« fragte er schließlich mit einem Nicken in die Richtung des Weines.
    Ich schüttelte den Kopf. »Habt Dank. Aber mir ist nicht danach zumute.«
    »Natürlich nicht«, sagte Hollbeck. »Was habt Ihr nun vor?«
    Ich zuckte mit den Achseln. Es widerstrebte mir, ihm das Ziel meines Weges zu nennen. »Ich gehe fort, vielleicht weiter gen Osten. Dort soll es Bedarf an guten Männern geben.«
    »Ihr wollt Euch als Söldner verdingen?« fragte er überrascht.
    »Wer weiß«, erwiderte ich und erhob mich vom Schemel. Ich nahm das Bündel von der Schulter, zwängte den Bronzekopf hinein und schnürte es wieder zusammen. Reisefertig sah ich Hollbeck an. »Wollt Ihr mich hinausbegleiten?« Die Frage war als Aufforderung gedacht.
    Er hob den Becher und lachte, als wäre er bereits berauscht. »Geht nur, Ihr findet den Weg auch ohne mich. Nehmt eine Fackel mit – und fallt mir nicht in den See.«
    Seine Gleichgültigkeit erstaunte mich. War es Unhöflichkeit, die ihn davon abhielt, mich zu führen, oder trieb ihn etwas anderes?
    »Gut«, sagte ich bestimmt. »Dann werde ich gehen. Gehabt Euch wohl.« Ich griff nach der Fackel, drehte mich um und verließ den Höhlendom, ohne mich noch einmal nach dem alten Einsiedler umzusehen. Wohl horchte ich, ob er sich von seinem Platz am Tisch erhob, doch Hollbeck blieb sitzen. Trotzdem war mir, als folgte mir etwas, als ich den finsteren Gang entlang tappte, vorwärts, immer vorwärts, dem Tageslicht entgegen.
    Ich kam zu jener Abzweigung, wo es rechts hinunter zum Höhlensee ging, links aber ins Freie. Freilich war dies eine andere Seite des Berges als jene, an der ich aufgestiegen war, doch die Vorstellung, endlich wieder frische Luft zu ahnen und dem Labyrinth der Gänge und Kavernen zu entkommen, war übermächtig. Und weshalb sollte ich den Berg nicht hier verlassen? Ich war nun ein freier Mann, der seinen Weg allein bestimmte.
    Ich wollte die Fackel eben zur Seite schleudern, als ich mich eines Besseren besann. So behielt ich sie bei mir, auch als ich hinaus in den Wald trat. Es war kühl, aber nicht unangenehm, und seit Tagen war es das erste Mal, daß der Morgen ohne Regen anbrechen würde. Nicht mehr lange, und erstes Licht würde durch die Zweige fallen. Das Innere des Berges verlor seinen Schrecken.
    Ich ging in weiten Schritten hinüber zum schwarzen Tannenhain, der mit seinen verwobenen Zweigen wie ein Nest aus Dunkelheit inmitten des Waldes kauerte. Bedrohlich wuchsen die spitzen Bäume vor mir empor. Unter ihren Ästen herrschte völlige Finsternis.
    Mit einem letzten tiefen Atemzug verdrängte ich jede Warnung, die mir mein Geist entgegenschrie, und trat, die lodernde Fackel im Anschlag, zwischen den äußeren Tannen hindurch. Schon nach wenigen Schritten war mir, als befände ich mich nicht länger im Freien, sondern erneut in einer von Hollbecks Höhlengrüften. Die Erinnerung an das letzte Mal, als ich in solch einem Grab gefangen war, stieg in mir auf. Ich sah mich wieder in der Krypta, durchlebte erneut die bangen Augenblicke, als ich die erste der Bodenplatten anhob und eine Leiche darunter entdeckte. Ich erinnerte mich, wie mehr und mehr Körper zum Vorschein kamen, und mit ihnen die Ratten, die sich von ihren fauligen Gliedern nährten.
    Furcht überkam mich mit siedender Hitze. Ich wollte nichts als umkehren, mich herumwerfen und fliehen, fort von diesem entsetzlichen Dunkel, hinaus ins Tageslicht, hinfort in die Freiheit. Doch meine Neugier war trotz allem stärker. Einen letzten Blick wollte ich auf das werfen, was hier heimlich im Schatten gedieh.
    Und dann sah ich sie, ein Feld von Alraunen. Die gottlosen Pflanzen waren gewachsen, seit ich sie in Hollbecks Beisein entdeckt hatte. Es war, als hätten sie in der kurzen Zeit das Doppelte ihrer vorherigen Größe erreicht, vielleicht gar das Dreifache. Die breiten, abgerundeten Blätter der seltsamen Pflanzen reichten mir bis fast ans Knie. Ich war versucht, eine von ihnen aus dem feuchten Erdreich zu ziehen und ihren menschengleichen Wuchs von neuem zu betrachten, doch da fiel mein Blick auf etwas, das mich innehalten

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