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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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und daß nur wenige jemals wiederkehrten. Ich habe Jahrzehnte gebraucht, um all das zu verwinden, und noch länger, um zu begreifen, was die wahre Ursache war. Nicht die Sklavenhändler auf ihren stinkenden Schiffen, nicht die kindsgeilen Feilscher auf den Bazaren trugen die Schuld.« Er atmete tief durch, als könne er so den Albdruck der Erinnerung aus seinem Schädel verbannen. »Wir selbst waren es, die die Saat des Versagens in unseren Leibern trugen. Waffen der Unschuld, ha! Welch Lug und Trug die Prediger in unsere Herzen säten! Sie redeten uns ein, unsere Gedanken, unser Fleisch und unser Glauben seien rein, unberührt von den Mächten der Verdammnis, von Lust und Sünde und Schmutz. Herrgott, wie sehr sie uns überschätzten! Denn keiner ist rein, nicht ein einziger von uns, nicht damals, nicht heute. Wir, die wir aus dem Geschlecht der Weiber ans Tageslicht bluten, gezeugt aus Sünde, aufgewachsen in Abschaum und Armut. Wir, die wir stehlen und Gott, den Allmächtigen, lästern. Die wir schon als Kinder um unser Fressen kämpfen, die wir uns schlagen und schimpfen und morden.« Er lachte schrill auf, und der Laut durchschnitt die dunkle Stille der Wälder wie der einsame Schrei eines Habichts.
    »Wie hätte auch nur einer von uns von wahrer Reinheit sein können? Verdorben durch den Akt der Geburt, und verderbter mit jedem folgenden Tag. Nichts als Gebilde aus sündigem Fleisch, durch und durch faulig im Inneren.«
    Ich lauschte Hollbecks Worten, hörte, was er sagte, und war in Gedanken doch längst viel weiter. Ich verstand, welchen Schluß er unter seine Tiraden ziehen würde, begriff den Zusammenhang, noch bevor er ihn aussprach.
    »Mein Ziel wurde es, wahre Reinheit zu schaffen«, fuhr er fort, immer lauter vor Erregung. Allein die Armbrust blieb starr und ruhig in seinen Händen. »Ich erforschte das Geheimnis der Alraunen, erlernte alles über ihre Aussaat und Pflege. Ich wollte mir meine eigene Armee von Kindern schaffen, um das zu beenden, was wir so erfolglos begannen. Doch selbst, wenn es mir damals schon gelungen wäre, hundert oder zweihundert oder gar tausend dieser Wesen heranzuzüchten, wie hätte ich ihre Herkunft erklären sollen? Ich wußte, daß man bemerken würde, wenn plötzlich Hunderte von Kindern durch die Wälder zögen. Man würde sie fangen, befragen, vielleicht gar einsperren – alles Umstände, die ihre Unschuld zerstört, ihre Reinheit befleckt hätten. Alles wäre umsonst gewesen.
    Doch dann geschah, wovon ich niemals zu träumen wagte: Die Hamelner Kinder starben in den Flammen der Bühne. Hundertdreißig an der Zahl, die für alle Welt spurlos verschwunden waren. Was lag näher, als sie durch meine Alraunen neu zu erschaffen? Ich hätte mit ihnen nach Süden, ins Heilige Land ziehen können, und jeder, der nach der Herkunft der Kleinen gefragt hätte, hätte zur Antwort bekommen: ›Habt Ihr denn nicht von den Hamelner Kindern gehört? Hier sind sie, auf dem Weg, die Heiden zu vertreiben und Gott großen Ruhm und Ehre zu bereiten‹!«
    Ich blickte hinab auf das Alraunenfeld zu meinen Füßen und fragte mich unwillkürlich, ob Hollbeck recht hatte. War es möglich, aus diesen Pflanzen Menschen von vollkommener Unschuld zu züchten?
    »Ich mußte also dafür sorgen«, sprach der Alte weiter, »daß die Hamelner Kinder verschwunden blieben. Gleichzeitig wollte ich auch die Überlebenden, drei an der Zahl, nicht in meiner Armee missen. Auch sie mußten sterben, damit ich sie durch meine Pflanzen ersetzen konnte. Ich begann, einen Plan zu entwickeln, wie sie verschwinden konnten, ohne daß ein Verdacht auf mich fallen oder zuviel Aufhebens um die übrigen hundertdreißig gemacht würde. Ein Mann mußte als ihr Mörder gelten, der von außerhalb der Stadt kam und der allen Grund dazu hatte, sie zu töten. Dieser Mann wart Ihr, Ritter Robert. Euer vermeintlicher Wahnsinn, der Tod der kranken Kinder – all das war von mir geplant, in meinem Geist entworfen, zum höheren Zwecke des Herrn.«
    Hollbecks Worte tanzten einen irren Reigen durch meine Gedanken. Ich begriff alles und doch nichts. Da waren Lücken in dem, was er sagte, und obgleich ich spürte, wie sie im Fluß seiner Schilderung klafften, so war ich doch zu verwirrt, um gezielt danach zu fragen. Fest stand für mich nur eines: Ich hatte nicht ein einziges der Kinder ermordet. Ich war unschuldig! Ein anderer hatte es getan. Einer, den ich zwangsläufig kennen mußte. Denn wenn Hollbeck nicht selbst der Mörder, sondern

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