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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Boden, seine Finger noch immer um die Armbrust gekrallt. Wie durch einen bösen Scherz Gottes hatte sich der Bolzen nicht gelöst. Die Waffe war noch immer gespannt und deutete von mir fort in die Finsternis des Tannenhains. Der alte Mann bewegte sich nicht. Das Flackern des Feuers schuf Leben auf seinem Gesicht, doch seine Augen blieben geschlossen. Ich glaubte nicht, daß er tot war, doch schien er ohne Besinnung zu sein.
    Ich stand auf, überwand die Schmerzen, die meine geprellten Glieder quälten, und schleppte mich näher an das prasselnde Feuer.
    Die Zauberkugel des Ketzers hatte sich an der Fackel entflammt und ein gehöriges Loch in das Pflanzenbeet gerissen. Die meisten Alraunen lagen im Schmutz, viele ohne Blätter. Mit Entsetzen sah ich, daß ihre unterarmlangen Wurzeln eindeutig menschliche Form besaßen. Beine, Arme, sogar fingerlose Hände und ein grobschlächtiger Kopf waren den meisten gewachsen. Man hätte die schrecklichen Gewächse für fremdartige Rübenknollen halten mögen, doch ich wußte es besser. Hollbecks Kinderheer hatte kurz vor der Vollendung gestanden. Noch wenige Wochen, vielleicht nur noch Tage, dann wäre er am Ziel seines teuflischen Strebens gewesen.
    Oder war all das doch nur ein Hirngespinst? Die Antwort verbrannte mit den Pflanzen. Viele waren in Stücke gerissen. Aus den Öffnungen und Bruchstellen tropfte zäher, dunkler Saft. Höchstens ein Dutzend steckte noch im Boden. Ich würde sie herausziehen und mit den übrigen verbrennen.
    Erst aber galt es, sich um Hollbeck zu kümmern. Mit schwankenden Schritten trat ich neben ihn und bückte mich zögernd nach der Armbrust. Fast erwartete ich, daß er im selben Augenblick erwachen und den Bolzen auf mich abschießen würde. Doch der Einsiedler rührte sich nicht. Aus einer Wunde oberhalb seiner Schläfe floß Blut. Die Macht der Feuerkugel hatte ihn mit dem Schädel gegen einen Baumstamm geschleudert.
    Ich nahm die Waffe an mich und stand eine Weile lang zögernd da. Ich war nicht sicher, was zu tun war. Sollte ich Hollbeck töten und dem Zauber so ein Ende bereiten?
    Ich legte mit dem Bolzen auf seine Brust an, schwankte noch in meiner Entscheidung, als plötzlich hinter meinem Rücken ein Aufschrei ertönte.
    »Vater!«
    Aufgeschreckt fuhr ich herum – und sah noch, wie sich ein tiefschwarzer Schatten auf mich warf, dann stürzte ich schon zu Boden, während mir eine Hand die Armbrust entriß und eine zweite auf mein Gesicht einschlug. Eine Faust traf meine Oberlippe. Sie platzte auf, und warmes Blut schoß in meinen Mund. Dann packten zwei Hände meinen Kopf, und ich spürte, wie sich ihre Daumen in meine Augen bohrten. Ich konnte nichts sehen, fühlte nur den grauenvollen Schmerz und schlug in Panik um mich. Ehe die Fingernägel meine Lider durchstoßen und mir das Augenlicht nehmen konnten, trafen meine eigenen Hände auf Widerstand. Ich schlug meinem Gegner blind in die Seite, er schrie schrill auf und ließ von meinem Gesicht ab. Ich blickte auf, sah wegen des nachklingenden Drucks auf meinen Augen nichts als bunte Schlieren und erkannte mit Mühe eine schwarze Gestalt. Sie rollte sich zur Seite und wollte offenbar nach der Armbrust greifen.
    Ich warf mich auf sie, bekam einen erstaunlich zarten Körper zu fassen und schlug mit aller Wucht auf ihn ein. Allmählich klärte sich meine Sicht, doch während ich mich noch bemühte, meinen Gegner zu erkennen, rammte der mir schon ein Knie in den Unterleib. Atemlos keuchte ich auf. Ein Faustschlag streifte mein Gesicht, ging jedoch fehl. Zusammengekrümmt warf ich mich nach vorn, mein Schädel rammte in den Bauch des anderen und brachte uns beide zu Fall. Gleichzeitig schlugen wir auf den Boden, jetzt unweit des lodernden Feuers, und da endlich sah ich, wer es war.
    Die Frau in Schwarz. Die verschleierte Gestalt, die ich erstmals im Wald, dann in meiner Kammer und schließlich auf dem Dach des Gasthofs gesehen hatte. Sie war keineswegs ein Wahngespinst.
    Sie trug jetzt keinen Schleier mehr, doch das lange Haar war ihr ins Gesicht gefallen und verdeckte ihre Züge.
    Ich erkannte sie trotzdem.
    Gerade wollte ich sie beim Namen nennen, ihr Fragen stellen, auf sie einreden, als sie sich auch schon herumdrehte, hastig nach einer brennenden Wurzel griff und sie mir mit aller Kraft entgegenwarf. Die lodernde Alraune prallte gegen meine Wange. Ich brüllte auf vor Schmerz. Mein Haar fing Feuer. Einige Herzschläge lang war ich vollauf damit beschäftigt, es mit den Händen zu löschen.

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