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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Persönlichkeit, die jeder in dieser Stadt kannte. Ein Fall wie dieser erforderte drastische Maßnahmen. Der Mörder wäre ohnehin in Kürze gerichtet worden.«
    Ich nickte, immer noch betrübt, aber durchaus einsichtig. »Erzählt mir mehr über das Spiel.«
    Dies wiederum schien dem Probst zu gefallen. »Diese Bühne zu errichten war ein Wagnis. Keiner unserer Helfer war je an einem solchen Werk beteiligt, und doch vollbrachten sie das Unmögliche, denn der Glaube an Gott und die Arbeit zu seinen Ehren gaben ihnen Kraft.« Er verstummte und nahm einen Schluck Wein aus einem schweren Zinnbecher. Ich nahm an, er würde fortfahren, deshalb blieb ich still.
    Es dauerte eine Weile, bis der Probst erneut das Wort ergriff. Er schien mir ein Mann, der gern in Erinnerungen schwelgte, als hätte er ein Dasein in der erlebten Vergangenheit jenem in der Gegenwart vorgezogen. Vielleicht gefiel ihm einfach der Gedanke, bereits Erfahrenes neu zu durchleben, denn das Wissen um die Ereignisse gab ihm zugleich die Allmacht darüber.
    »Seit Monaten fiebert die Aufführung ihrem Höhepunkt entgegen«, fuhr er fort. »In drei Tagen ist das Werk vollbracht, Christus stirbt am Kreuz.«
    Ich nahm all meinen Mut zusammen und fragte: »Haltet Ihr es nicht für vermessen, selbst in die Rolle des Heilands zu schlüpfen?«
    Von Wetterau sah mich lange an, sein Blick schien jede Kerbe, jede Erhebung meines Gesichts zu studieren. Ich glaubte bereits, ihn erzürnt zu haben, als er plötzlich ganz ruhig fragte: »Wißt Ihr überhaupt, was diesen Menschen ein Heiliger in ihrer Stadt bedeutet, edler Ritter? Könnt Ihr ermessen, welche Begünstigung vor dem Angesicht des Herrn sie sich davon versprechen? All diese Reliquien« – dabei wies er mit beiden Händen auf die Regale voller Knochen, Schädel und Stoffetzen – »wiegen nichts im Vergleich zur greifbaren Gegenwart eines Schutzheiligen. In Euren Augen mag es vermessen sein, daß ich die Bühne als Erlöser betrete, doch die Menschen Hamelns erwarten es von mir. Für sie bin ich bald der Erlöser.«
    Ich wußte, daß er die Wahrheit sprach. In der Vergangenheit hatten Städte um die Überreste eines Heiligen blutige Schlachten geschlagen. Plötzlich begriff ich, welche Macht von Wetterau besaß. Längst schon hatte er den Vogt, sogar den Bischof an Bedeutung übertroffen. Jeder hier kannte das Versprechen, das der Papst ihm gegeben hatte, und für diese Ehre nahm man freudig die Anstrengungen eines wochenlangen Mysterienspiels auf sich. Von Wetterau war der wahre Herrscher dieser Stadt; Bürgermeister, Vogt, Bischof und Herzog – sie alle verblaßten in seinem Licht zu machtlosen Schemen.
    Einen Augenblick lang erwog ich, ihn noch weiter zu seiner Rolle in Hameln, insbesondere aber im Spiel zu befragen. Dann jedoch entschied ich mich anders und fragte statt dessen: »Wann wird Herzog Heinrich eintreffen?«
    »Übermorgen – wie auch der Bischof. Es wird reizvoll sein, diese beiden beisammen zu sehen«, erwiderte er lächelnd.
    »Ihr befürchtet einen Streit?«
    »Nun, Grund genug gäbe es, nicht wahr? Dem Herzog wird schwerlich entgehen, wer in Hameln das Sagen hat.«
    »Vielleicht tätet Ihr gut daran, Euch in seinem Beisein zurückzuhalten«, empfahl ich versöhnlich.
    Von Wetterau lachte. »Oh, das werden wir, habt keine Sorge. Niemandem ist an einem offenen Streit gelegen, mir selbst am allerwenigsten.«
    Natürlich, von Wetteraus Bestreben war ein reibungsloser Abschluß des Mysteriums, politische Dünkel waren ihm dabei nur im Wege.
    »Wißt Ihr, mit welchem Gefolge der Herzog einreiten wird?« fragte ich.
    Der Probst hob die Schultern. »Mit seiner Leibgarde, nehme ich an. Vielleicht ein, zwei Beratern. Und seiner Astrologin. Ich bin sicher daß dieses Heidenweib dabei sein wird. Sie weicht kaum von seiner Seite. Doch Ihr kennt Euch besser mit den Gepflogenheiten Heinrichs aus als ich.«
    Althea würde nach Hameln kommen! Die Nachricht raubte mir den Atem. Die holde, herrliche Althea. Lange schon vermißte ich ihr Lächeln, ihr schillernd schwarzes Haar, ihr sanftes Flüstern im Dunkeln. Wie von selbst fuhr meine Hand hinauf zum Oberarm, ertastete unter dem Stoff die Hasenpfote. Altheas Talisman.
    Von Wetterau bemerkte die Bewegung und runzelte die Stirn. Dann schenkte er sich Wein ein und bot auch mir welchen an, doch die freudige Erwartung von Altheas Kommen berauschte mich stärker als jeder Trunk. Ich lehnte ab und bat, mich für die Nacht zu entlassen.
    Von Wetterau willigte

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