Der Rattenzauber
mir? Hatte ich nicht gerade geglaubt, zur Besinnung zu kommen?
Ich blickte hinüber zur Stadt und suchte das vorspringende Dach der Herberge. Was ich sah, erschütterte mich bis ins Mark.
Die Frau in Schwarz stand aufrecht oben auf dem Giebel wie ein schwarzes Gespenst, genau dort, wo ich selbst eben noch gekauert hatte. Ihre Gewänder flatterten im Wind. Einen Herzschlag lang hob sich ihr Schleier. Da blickte ich erstmals in ihr Gesicht, und obgleich die Entfernung zu groß war, um ihr wahres Antlitz zu erkennen, so bemerkte ich doch, daß sie mich anstarrte. Ihr Gesicht schimmerte weiß wie das einer Toten, und ihr schwarzer Mund war aufgerissen in irrem, höhnischem Gelächter.
***
Der Bronzekopf tickte leise, und es dauerte eine Weile, bis er zu mir sprach: »Die Antwort liegt längst in deinem Inneren verborgen. Begib dich auf die Suche in dir selbst, und du wirst fündig werden.«
Ich starrte das metallene Ding an und verstand nicht, was es mir sagen wollte. »Das klingt, als wüßtest du die Lösung aller Rätsel bereits.«
Der Schädel schwieg.
»Sag mir, was du weißt!« rief ich erzürnt und legte erneut beide Hände an den Bronzekopf, um ihn kräftig zu schütteln. Das Surren und Brummen fuhr bei der Berührung durch meine Fingerspitzen hinauf in Hand und Arm. Voller Ekel ließ ich den Schädel wieder los.
»Ungestüm wird dich nicht zum Ziel bringen«, sagte er so salbungsvoll, als sei Sokrates selbst in ihn gefahren. Meine Wut auf ihn stieg mit jedem seiner Worte.
Das Fenster stand noch immer offen, und obgleich mir die Müdigkeit den Blick verschleierte, war ich sicher, mit dem Schädel noch recht gut danach zielen zu können.
Ich zügelte meinen Zorn, legte mich statt dessen aufs Bett und starrte den Kopf, der auf dem Tisch stand, finster an. Seine Antworten waren nichts als Geschwafel, das mir nicht weiterhalf. Bei meiner Ankunft in der Herberge war die Frau natürlich fort gewesen, und mir kamen Zweifel, ob irgend jemand sonst sie auf dem Dach gesehen hatte. Es war, als gieße ein böser Geist all meine Alpträume in fleischliche Gestalt, als wechselten die Schöpfungen meines Hirns allmählich hinüber auf die Seite der Lebenden. Und doch schien ihr Anblick mir alleine vorbehalten.
Die Antwort liegt in deinem Inneren. Waren die Worte des Schädels wirklich leeres Gefasel oder steckte mehr hinter seinem Hinweis? Was hatte das Verschwinden der Kinder mit mir zu tun? Oder gab es noch ein zweites Rätsel, auf das der Bronzekopf anspielte? Und falls ja, wo war die Verbindung zwischen beiden?
Ich erwog, ihm diese Fragen zu stellen, doch ahnte ich sehr wohl, daß er mir keine Antwort geben würde. Der Schädel gefiel sich in der Rolle des Geheimniskrämers.
Verwirrt von all den Mysterien fiel ich in unruhigen Schlaf. Gelegentlich erwachte ich von meiner eigenen Rede, von Worten, die sich aus meinen Träumen ins Wachsein stahlen. Ich schwitzte und hegte erneut die Befürchtung, daß mich ein Fieber befallen hatte. Der Tag verging in einem Taumel aus Schlaf und trägem Wachen, und in all dieser Wirrsal aus Fragen und unausgesprochenen Antworten faßte ich endlich einen Entschluß.
Es war später Abend, als ich die Herberge verließ. Ich hatte Dantes Mantel übergezogen, denn obgleich mir bewußt war, daß jedermann ihn mittlerweile kennen mußte, schützte er mich doch vor der Kühle der Nacht. Ich fürchtete, daß man jeden meiner Schritte beobachten würde, immerhin galt ich als Verdächtiger. Ich mochte von Wetterau von meiner Unschuld überzeugt haben; daß aber das gemeine Volk seiner Ansicht war, stand zu bezweifeln. Fast schien mir die Ruhe verdächtig, die man mir gelassen hatte. Irgend etwas schien die Menschen in ihrem Zorn zu zügeln, und dies mußte etwas sein, das mehr wog als die Stimmen der Stadtoberen.
Ich eilte ohne großes Bemühen, mich zu verbergen, durch die Gassen. Falls man mich in der Tat verfolgte, konnte ich ohnehin nichts dagegen tun.
Ein jeder hätte den Dolch aus meiner Kammer stehlen können, angefangen von Maria und Hollbeck bis zu jedwedem Hamelner Bürger. Was blieb, war das Blut an meiner Kleidung. Konnte es das Blut des lahmen Jungen sein? Und machte mich das zum Mörder? Was war mit dem toten Baumeister? War nicht auch er von fremder Hand gestorben? Weshalb sollte es dem Kind nicht ebenso ergangen sein?
Ich erreichte das Kloster der Klarissen ohne Zwischenfälle. Der kreuzförmige, zweistöckige Bau hob sich als schwarzer Klotz vom kaum helleren Himmel ab.
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