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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Schwester eine der ihren wurde.«
    »Sie ist ihre Priesterin«, sagte er knapp, als sei das Antwort genug.
    Ich schwieg und wartete darauf, daß er fortfuhr.
    »Es gibt nicht viel zu erzählen«, sagte er langsam. »Wir wurden in Hameln geboren, doch während ich von hier fortzog, um mein Glück an den Höfen zu suchen, blieb Liutbirg in der Stadt. Sie kam in Berührung mit heidnischem Brauchtum – vielleicht durch reisende Händler und Scharlatane, ich weiß es nicht. Der Glaube unserer Ahnen ist verbreiteter, als Ihr denken mögt. Überall im Land gibt es Gruppen wie diese. Liutbirg und ihre Anhänger sind keine Ausnahme. Nachts, hinter verschlossenen Türen und an prasselnden Feuern werden noch immer die alten Riten vollzogen. Die Menschen haben jahrhundertelang an die Götter um Wodan geglaubt. Anders als die christliche Kirche hat er ihnen keine Kreuzzüge aufgezwungen, keine gestrengen Sitten und Gesetze. Die Verlockung, ihm zu verfallen, ist groß.«
    »Liutbirg sagt, Ihr haßt sie.«
    Von Wetterau lächelte grimmig. »Da hat sie nicht unrecht. Es ist meine feste Überzeugung, daß ihre Leute für das Verschwinden der Kinder verantwortlich sind, und Liutbirg ist ihre Anführerin. Sie gibt ihnen Befehle, sie bestimmt, was zu tun ist. Das Unglück, das unsere Stadt heimgesucht hat, ist allein ihr Werk.«
    »Ihr geht hart mit Eurer Schwester ins Gericht«, entgegnete ich, »obgleich es doch keine Beweise gibt.«
    »Beweise!« spie der Probst mir entgegen. »Was bedeuten Beweise? Wenn es allein danach ginge, müßte ich Euch in den nächstbesten Kerker werfen, Ritter Robert, denn die Beweise im Fall des ermordeten Jungen sprechen gegen Euch.«
    Darauf schwieg ich beschämt. Vielleicht hatte von Wetterau recht. Vielleicht waren es nicht allein Beweise, nach denen es zu suchen galt. Möglicherweise gab es eine höhere, eine reinere Form von Wissen, um die Ereignisse aufzuklären.
    »Was ist mit dem Baumeister der Mysterienbühne?« fragte ich nach einer Weile, in welcher der Probst brütend schwieg. »Ihr müßt ihn gekannt haben. Wer hätte einen Grund gehabt, ihn zu töten?«
    Von Wetterau seufzte. »Ihr wißt, daß ich ihm den Auftrag gab, die Bühne zu errichten. Und, glaubt mir, seine Leistung ist wahrlich ein Meisterwerk, die größte Bühne, die je diesseits des Rheins erbaut wurde. Habt Ihr die Dreiteilung bemerkt, die drei Etagen? Das ergibt eine Gesamtzahl von neun Spielebenen! Ich glaube kaum, daß selbst in Frankreich je ein solcher Aufwand betrieben wurde.«
    »Das beantwortet nicht meine Frage«, gab ich zu bedenken.
    Er nickte. »Natürlich nicht. Wie ich sagte: Nikolaus Meister war ein Genie. Aber er war auch eine verdorbene Existenz mit Schulden bei mehr Menschen, als Ihr und ich beim Namen kennen. Seine Leidenschaft war das Würfelspiel, der Suff und – Gott bewahre uns davor – die Hurerei. Er hat sich in seinen wenigen Monaten in Hameln zahllose Feinde gemacht, vor allem bei den durchreisenden Händlern, die er um manches Silberstück betrog. Es war nicht schwer, die Spur seines Mörders aufzunehmen und den Schuldigen zu stellen.«
    »Dann habt Ihr den Mörder gefangen?« fragte ich verblüfft.
    »Noch in derselben Nacht«, bestätigte von Wetterau nicht ohne Stolz. »Wir zogen ihn aus dem Bett einer Dirne im Marktviertel. Nikolaus’ Blut klebte noch an seinem Dolch.«
    Erregt erinnerte ich mich an die schauderhaften Laute, die ich in der Mordnacht vernommen hatte – und an das Blut an meinen eigenen Händen. War mein Bangen, ich selbst könnte der Mörder gewesen sein, nichts weiter als ein Hirngespinst? Ich hätte jubeln mögen vor Freude.
    »Wo ist der Mann?« wollte ich wissen. »Kann ich mit ihm sprechen?«
    »Ich bin erstaunt über Eure große Anteilnahme«, sagte der Probst.
    »Verzeiht«, antwortete ich mit gelinder Empörung, »doch als Nikolaus Meister starb, trennte mich nur eine dünne Wand von ihm und seinem Mörder. Wie könnt Ihr annehmen, solch ein Vorfall ließe mich kalt?«
    Von Wetterau beschwichtigte mich mit einer Handbewegung. »Nichts liegt mir ferner, werter Freund. Und doch muß ich Euren Wunsch leider abschlagen. Meisters Mörder ist tot. Er versuchte zu fliehen, da streckte ihn ein Kerkerknecht mit der Lanze nieder. Sein Leichnam wurde bereits in ungeweihter Erde verscharrt.« Er muß mir meine Enttäuschung angesehen haben, denn er fügte eilig hinzu: »Lägen die Dinge anders, hätte ich Euch umgehend zu ihm bringen lassen. Meister Nikolaus war eine

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