Der Rattenzauber
Am Tor brannten zwei Fackeln, doch ich mied ihren Lichtkreis in weitem Bogen und schlich zur Rückseite der Anlage. Die Mauer, die den Garten des Klosters umgab, war hoch, aber nicht allzu schwer zu erklimmen. Breite Fugen und grobes Gestein boten Händen und Füßen ausreichend Halt, und schon nach wenigen Augenblicken spähte ich vorsichtig über den Rand hinweg nach innen.
Hohes, dichtes Strauchwerk war meinen Blicken im Weg. Ich vermochte nicht zu erkennen, was dahinter lag. Die dornigen Büsche mußten den ganzen Garten umfassen, denn sie setzten sich rechts und links in der Dunkelheit fort. Mir blieb keine andere Wahl, als die Mauer gänzlich zu ersteigen und von ihrer Krone aus in einem hohen Satz über das Geäst zu springen. Die Vorstellung mißfiel mir zutiefst, da ich nicht wußte, was mich auf der anderen Seite erwarten würde.
Ich verdrängte alle Vorbehalte, zog mich hinauf und stieß mich dann mit beiden Beinen ab. Meine Füße streiften Dornenranken, doch durch die Stiefel hindurch vermochten sie meine Haut nicht zu verletzen. Der Augenblick des freien Falls dehnte sich ins Unendliche. Dann kam der Aufprall und mit ihm der Schmerz. Ich landete zwar auf beiden Füßen, wurde jedoch durch die Wucht sogleich von denselben gerissen und fiel kopfüber nach vorne. Mein Schädel schlug auf. Hätte nicht dichtes Gras den Sturz aufgefangen, wären mir vielleicht die Sinne geschwunden; so aber war mir jede Einzelheit meiner furchtbaren Schmerzen bewußt. Ich spürte, wie die Brandwunde an meiner Brust spannte und aufbrach. Zudem fühlten sich meine Hüften an, als hätte mir jemand beide Beine bis zu den Knien in den Rumpf geschlagen. Gequält lag ich da und konnte mich eine ganze Weile lang kaum rühren, bis die schlimmste Pein verflogen war. Dann erst blickte ich mich um.
Ich befand mich auf einer Wiese, die an zwei Seiten an den westlichen und südlichen Flügel des Klosters stieß. Die beiden anderen Seiten waren von Dornenbüschen begrenzt. Niemand war zu sehen, auch in den Fenstern brannte kein Licht. Ich fragte mich, ob ein Nonnenkloster aus Furcht vor männlichen Eindringlingen keine Bluthunde halten würde, doch bislang war nichts dergleichen zu sehen. Ich hoffte innigst, daß es dabei blieb. Mit einem Rudel zähnefletschender Bestien würde ich es schwerlich aufnehmen können.
Ich schlich entlang der Sträucher zum Haus. Die unteren Fenster waren vergittert, ein Eindringen schien unmöglich. Erst, nachdem ich die Hoffnung auf dieser Seite des Klosters fast aufgegeben hatte, stieß ich auf eine Treppe, die an der Mauer hinab zu einer Kellertür führte. Diese bestand aus schwerem Eichenholz mit eisernen Beschlägen und war von innen verriegelt. Ohne die gesamte Schwesternschaft zu wecken, würde ich auch hier nicht hineinkommen. Enttäuscht stieg ich die Stufen wieder hinauf und wollte den Westflügel bereits nach Norden hin umrunden, als mir aus dieser Richtung ein Lichtschein entgegenfiel. Fackeln – und Stimmen! Zwei Knechte der Klarissen patrouillierten ums Haus. Ich sah sie in der Finsternis näher kommen.
Falls sie mich erkannten, war mein Schicksal besiegelt. Wer sonst, außer einem Verbrecher, schleicht bei Nacht um fremde Häuser? Da ich zudem im Verdacht stand, ein Mörder zu sein, würde ich kaum jemanden vom Gegenteil überzeugen können. Von Wetterau würde mich in aller Eile aburteilen; ihm blieb gar keine andere Wahl. Da wurde mir klar, daß es von nun an um mein Leben ging. Allzu eilfertig hatte ich es aufs Spiel gesetzt. Nun bereute ich meinen Leichtsinn.
Die beiden Männer – der eine kaum jünger als ich, der andere um einiges älter – kamen näher. Einer trug einen Weinschlauch in der Hand, aus dem er alle paar Schritte einen tiefen Zug nahm und ihn dann seinem Gefährten reichte. Ihr Gang war nicht mehr vollkommen gerade, und ihre Aufmerksamkeit litt erheblich unter ihrem Rausch. Das kam mir zugute, als ich zurück zur Kellertreppe eilte und mich dort vor ihren Blicken und dem Fackellicht verbarg. Sie traten bis auf wenige Schritte an mich heran. Ich sah Dolche in ihren Gürteln und hörte, wie sie miteinander flüsterten. Der Ältere berührte den Jüngeren am Arm, eine vertraute, mehr als freundschaftliche Geste. Ich verstand nur wenig von dem, was sie sagten, doch schienen sich sich mit leisen Berichten an der Schönheit einzelner Schwestern zu ergötzen. Sie hatten mein Versteck fast erreicht, als der eine plötzlich grinste und den anderen mit sich in eine dunkle
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