Der Rattenzauber
plötzlich, wie aus einem bösen Traum erwacht, fragte er: »Habt Ihr den Jungen getötet, Robert von Thalstein?«
»Nein«, entgegnete ich und machte keinen Versuch, seinem Blick auszuweichen.
Statt meine Antwort in Zweifel zu ziehen, nickte er nur. »Ich glaube Euch – zumindest im Augenblick.« Er gab den beiden Wachen einen Wink, und ich hörte, wie sie sich von mir abwandten und die Treppe ins Erdgeschoß hinabstiegen. Ich wagte nicht, aufzuatmen.
»Der Adler des Herzogs muß nichts bedeuten«, sagte er leise. »Jeder kann ihn an die Wand gemalt haben. Um ehrlich zu sein, ich halte ihn für einen reichlich plumpen Versuch, den Verdacht auf Euch zu lenken.«
Zu meinem Glück wußte niemand, nicht einmal von Wetterau, daß der Dolch im Gesicht des Jungen mir gehörte. Ich hatte ihn nie offen bei mir getragen: Es handelte sich vielmehr um jene zweite Klinge, die während der ganzen Zeit in meinem Bündel gesteckt hatte. Der Dolch aber, den ich stets im Gürtel gehabt hatte, lag jetzt vor dem Probst auf dem Tisch. Einer der Wachmänner hatte ihn mir abgenommen und von Wetterau übergeben. Der Probst griff danach, holte Schwung und schob ihn mir herüber. Mit einem Scheppern rutschte die Klinge der Länge nach über die Tafel und blieb vor mir liegen.
»Nehmt«, sagte er. »Er gehört Euch, und ich wüßte keinen Grund, weshalb Ihr ihn nicht tragen solltet.«
»Habt Dank«, erwiderte ich, ließ die Waffe aber vorerst liegen.
»Habt Ihr einen Verdacht, wer es gewesen sein könnte?« fragte von Wetterau.
Ich schüttelte den Kopf. »Warum macht Ihr Euch überhaupt Gedanken darüber? Ist die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung in dieser Stadt nicht Sache des Bürgermeisters?«
Der Probst verneinte. »Nicht in diesem Fall. Wir glauben, daß der Tod des lahmen Jungen mit dem Verschwinden der Kinder zu tun hat.«
Natürlich, nichts lag näher. Und doch war die Art der Verbindung zwischen diesen Vorfällen rätselhaft. Während die übrigen Kinder spurlos verschwunden waren, hatte man die Leiche des Jungen offen liegen lassen, ja durch den Blutadler sogar noch für besondere Aufmerksamkeit gesorgt. Beides mochte schwerlich zueinander passen.
»Euch ist doch klar, daß es noch einen zweiten Diener des Herzogs in Hameln gibt«, sagte ich behutsam.
Von Wetterau nickte, seine Züge formten ein schmerzliches Lächeln. »Ihr meint Graf von Schwalenberg?«
»Allerdings.«
»Er kann es nicht gewesen sein – abgesehen davon, daß auch er keinen Grund gehabt hätte.«
»Er ist wahnsinnig.«
»Trotzdem kann er nicht der Mörder sein.«
»Was macht Euch da so sicher?«
Das Lächeln verschwand von seinem Gesicht, nur in seinen Augen blieb ein schalkhaftes Glitzern. »Schwalenberg hat gestern morgen einen seiner Flugversuche gewagt. Er ist mitsamt seiner Erfindung vom Turm gestürzt und hat sich beide Beine gebrochen. Er liegt daheim im Bett und kann nicht einmal die nötigsten Zwänge des Lebens verrichten – geschweige denn, nachts kleine Kinder ermorden.«
Ich atmete tief durch. »Was ist mit dem Henker? Auch er ist ein treuer Anhänger Heinrichs, wie der Graf mir sagte.«
»Ihr liefert Eure eigenen Leute ans Messer, edler Ritter«, stellte von Wetterau belustigt fest. »Ist das Eure Art?«
»Nein«, entgegnete ich heftig und durchaus erzürnt. Sein Vorwurf mochte nicht ernst gemeint gewesen sein, trotzdem fuhr mir die Beleidigung tief in die Knochen.
»Ich liefere niemanden ans Messer. Doch bedenkt, daß ich hier bin, um das Verschwinden der Kinder zu klären. Es ist meine Pflicht, möglichen Spuren nachzugehen.«
Er nickte müde. »Verzeiht mein loses Mundwerk. Um Eure Frage aber zu beantworten: Der Henker wurde verhört, ebenso seine Frau und seine sechs erwachsenen Töchter. Sie alle beschwören, daß der Alte die ganze Nacht über in seiner Hütte lag. Zudem ist der Mann fast blind. Er würde mit seinem Beil einen Hals nicht treffen, wenn Ihr ein rotes Kreuz darauf maltet.«
Darauf versanken wir beide in brütendes Schweigen. Schließlich, nachdem wir eine ganze Weile stumm vor uns hin gestarrt hatten, sagte ich: »Darf ich Euch eine Frage stellen?«
»Gewiß«, erwiderte er neugierig.
»Es geht um Eure Schwester, um Liutbirg.«
Sein Gesicht schien von einem Moment auf den nächsten zu versteinern. »Ihr wart bei den Wodan-Jüngern«, stellte er fest.
»Natürlich. Auch das war meine Pflicht, nach allem, was Ihr mir über sie berichtet habt.«
Er nickte. »Was wollt Ihr wissen?«
»Weshalb Eure
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