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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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durch ihre Mitte und trat durch die offene Tür der Hütte. Die Hitze blakender Fackeln schlug mir entgegen, als ich den engen Innenraum betrat. Der Boden war aus festgestampftem Lehm, die Einrichtung schlicht. Sechs Menschen standen zur Rückseite der Hütte gewandt und verdeckten mit ihren Körpern, auf was sie herabblickten. Das Heulen war verstummt, und zwei schluchzende Frauen hielten sich gegenseitig im Arm. Eine von ihnen mußte die Schreie ausgestoßen haben. Die übrigen waren Männer. Einer bemerkte mich und stieß sogleich die anderen an. »Seht!« flüsterte er ihnen zu. Alle drehten sich zu mir um.
    Ihre Augen lagen im Dunkeln, doch ich ahnte das Mißtrauen und die Ablehnung, die aus ihren Blicken sprachen. Feindseligkeit hing in der Luft, schlimmer als an den Tagen zuvor. Noch immer konnte ich nicht sehen, was hinter ihnen am Boden lag, nur an der Wand nahm ich ein riesiges Muster wahr. Die hohen, schwarzen Schatten der Männer verbargen seine Form. Es war unmöglich, zu erkennen, was es darstellen sollte.
    »Tretet zur Seite!« befahl ich. Das Beben in meiner Stimme war kaum zu überhören.
    Sie gehorchten nur zögernd. Wut sprach aus jeder Bewegung, doch niemand wagte, mich anzugreifen.
    Jemand hatte den Umriß eines mannsgroßen Vogels an die Wand gemalt, mit weit gespannten Schwingen und einem scharfen Schnabel wie eine Säbelklinge. Die Striche, offenbar mit Händen grob gezogen, waren dunkelrot, fast braun. Sie glitzerten feucht. Die Krallen des Vogels endeten am Boden, und dort lag, in einer sternförmigen Lache aus Blut, ein totes Kind. Es war der lahme Junge, dem ich wenige Tage zuvor begegnet war. Sein Mörder hatte ihm die Kehle durchgeschnitten. In seiner Stirn steckte ein Dolch.
    Der monströse Blutvogel war ein Zerrbild des herzoglichen Wappentieres.
    Der Dolch aber war mein eigener.

DRITTER TEIL
    Die Rattengruft

    KAPITEL 6
    »Die Welt der Sarazenen ist der unseren so unendlich überlegen«, stellte von Wetterau nachdenklich fest. Er saß am Ende der langen Tafel in seinem Haus und spielte mit einem gelben Fingerknochen; wie ein Jahrmarktszauberer ließ er ihn über die Fingerkuppen tanzen, dann zwischen den Knöcheln entlang, hin und wieder zurück, hin und zurück. Ob der Heilige, dem das spröde Glied gehört hatte, in all seiner Weisheit hätte ahnen können, wo es einmal landen würde? Daß ein Probst im fernen Hameln damit seine Spiele treiben würde, als könne er mit diesem merkwürdigen Ritual seine Denkkraft fördern?
    »In den Augen der Sarazenen sind alle Menschen gleich«, fuhr von Wetterau fort, ganz vertieft in den tanzenden Knochen. »Allein die letzte und höchste Offenbarung sprechen sie Andersgläubigen ab – die des Propheten Mohammed. Doch ungeachtet dessen entsteht aus dieser Gleichheit vor Gott ein enger Zusammenhalt der sarazenischen Völkerschar, er zwingt sie, einander zu achten und zu vertrauen. Das macht sie so stark, und nur deshalb haben unsere Heere sie niemals besiegen können.«
    Nachdem er geendet hatte, blieb sein Blick gesenkt. Man konnte ihm ansehen, wie ratlos er angesichts der Lage war.
    Ich selbst saß am anderen Ende der Tafel, wie schon bei unserem ersten Treffen, mit dem einen Unterschied, daß zwei Bewaffnete nur zwei Schritte hinter mir standen und auf jede meiner Bewegungen achtgaben.
    »Ist das der Grund, weshalb Ihr die Heiden so haßt?« fragte ich.
    Der Probst zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Ihre Überlegenheit macht mir zu schaffen. So oft schlugen sie unsere Heere, töteten Männer, für die es in unserem Land keinen würdigen Gegner gab. Die Sarazenen schickten Kinder in den Krieg, und ihre Kinder kämpfen tapfer und kühn. Nicht die Unschuld dieser Jungen und Mädchen besiegte unsere Ritter, nicht ihre Reinheit vor Allah und Mohammed – allein ihr Umgang mit Messer und Bogen warf unsere Heerscharen nieder.«
    »Solche Zweifel habe ich von einem wie Euch nicht erwartet.«
    Erstmals hob er den Kopf und sah mich direkt an. Seine Augen funkelten wie dunkle Edelsteine. »Zweifelt Ihr nie, edler Ritter? Seid Ihr so befangen von der Überzeugung, daß all Euer Wirken und Tun bestimmt ist von Gottes Hand?«
    »Wollt Ihr das denn abstreiten?«
    Er sank wieder in sich zusammen wie ein Wasserschlauch, in den jemand ein Loch gestochen hatte.
    »Nein, wohl kaum. Wie könnte ich? Ich bin der Probst dieses Stifts …«
    »… und nach Eurem Tod ein Heiliger«, fügte ich hinzu.
    »Ein Heiliger«, wiederholte er gedankenverloren. Und,

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