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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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sofort ein, begleitete mich zur Tür und verabschiedete sich aufs herzlichste. Er war ein merkwürdiger Mann – mal rauh, mal höflich, in seiner Härte getrieben vom unbedingten Wunsch nach Gerechtigkeit. Ich mußte mir eingestehen, daß ich ihn auf seine Art mochte.
    Der Morgen dämmerte über den Hügeln, als ich hinaus auf die Straße trat und mich entlang des Flußufers auf den Weg zur Herberge machte. Sanfter Nieselregen überzog die ruhige Wasseroberfläche mit Pockennarben. Ein weiterer Tag, an dem es nicht wirklich hell werden würde. Mir war es gleichgültig; ich wollte nur schlafen und die Schreckensbilder von blutigen Händen, sprechenden Bronzeköpfen und geisterhaften Nonnen durch Träume von Althea verdrängen.
    Ich passierte das Hamelner Loch und schlug den Weg nach rechts ins Gewirr der alten Dorfgassen ein. Kurz darauf betrat ich die Herberge, stieg unbemerkt hinauf in meine Kammer und öffnete das Fenster, um frische Luft einzulassen. Der Geruch nach dem verbrannten Fleisch des Baumeisters hing immer noch schwer und übelkeiterregend im Zimmer. Ich erwog, ob es besser sei, die Wirtin um eine neue Kammer zu bitten oder in eine andere Herberge zu ziehen.
    Ich verschob diese Erwägungen auf einen späteren Zeitpunkt und wollte vom Fenster ans Bett treten, als ich am äußeren Rande meines Blickfeldes einer Bewegung gewahr wurde. Noch einmal sah ich aus dem Fenster. Das Auf und Ab der Hüttendächer erstreckte sich bis zum Fluß, dahinter wuchsen die bewaldeten Hänge in die Höhe. Zwischen den Giebeln erkannte ich ein Stück des gegenüberliegenden Ufers. Ich streckte mich auf die Zehenspitzen, um mehr davon sehen zu können, denn wenn mich meine Sinne nicht täuschten, hatte ich dort eine Gestalt erkannt. Ein Mensch in schwarzen Gewändern. Die verschleierte Frau.
    Mein Herz raste vor Aufregung. Um so ärgerlicher war, daß jener Teil des Ufers, den ich von hier aus zu sehen vermochte, nun plötzlich verlassen dalag. Ich faßte einen Entschluß. Mit schnellen Schritten verließ ich die Kammer, stieg die Leiter am Ende des Ganges hinauf und öffnete eine Luke zum Speicher. Er war düster wie in einer Erdhöhle, abgesehen von einigen Lichtfingern, die sich quer durch die Schatten spannten wie Goldgeschmeide. Staubwolken stoben bei jedem meiner Schritte auf, und ich war über und über von Spinnweben bedeckt, ehe ich nach einigem Suchen eine Dachluke fand. Unter meinen heftigen Stößen gab sie nach und schwang klappernd nach außen. Ich zog mich an ihrem Rand in die Höhe und kauerte schließlich oben auf dem Giebel des Hauses. Von hier aus bot sich mir eine weite Sicht über die ganze Stadt. Die Herberge war mit ihren zwei Stockwerken eines der höchsten Gebäude des Dorfbezirks, und ihr Dach eignete sich prächtig als Aussichtspunkt.
    Ich blickte hinüber zur anderen Flußseite, und da war sie. Reglos stand die Frau in Schwarz da und blickte mir entgegen. Ich sah weder ihr Gesicht noch andere Einzelheiten, kaum mehr als ihren dunklen Umriß. Trotzdem war ich sicher, daß sie es war. Dieselbe Frau, die ich oben im Wald und bei Nacht in meiner Kammer gesehen hatte. Sie stand starr am Ufer, die verschleierten Züge in meine Richtung gewandt. Wüßte ich nicht besser, daß es unmöglich war, so würde ich behaupten, ich hätte ihr Lachen gehört. Ein boshaftes Lachen hinter schwarzer Seide.
    Da wußte ich endgültig, daß sie der Schlüssel zu Hamelns Geheimnis war.
    So schnell ich konnte sprang ich durch die Luke zurück ins Haus, rannte hinunter zum Stall und löste hastig die Fesseln meines Pferdes. Ich sprang auf seinen ungesattelten Rücken und galoppierte los. Durch die Gassen zum Ufer und zur Steinbrücke im Süden. Ich wagte nicht, den Blick auf die Stelle zu lenken, wo ich die Frau gesehen hatte, aus Angst, sie könne sich als weiteres Trugbild erweisen. Erst als ich die Brücke halb überquert hatte, schaute ich erneut zu ihr hinüber.
    Sie war fort. Von Verzweiflung getrieben trat ich den Rappen zu schnellerem Galopp, bis ich endgültig die Stelle erreichte, an der ich sie zu sehen vermeint hatte. Der Boden der Flußaue war sumpfig, hohes Gras bog sich in einer aufkommenden Brise. Bei jedem Hufschlag des Pferdes spritzte Wasser bis zu meinen Hüften.
    Ich ließ das Tier anhalten und versuchte mit aller Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen. Hier gab es keine Frau, wahrscheinlich war nie eine dagewesen. Diese Erkenntnis ließ mich erneut an meinem Verstand zweifeln. Herrgott, was geschah mit

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