Der rauchblaue Fluss (German Edition)
ihre Körperhaltung strahlt keineswegs Ruhe aus: Sie presst die Lippen fest aufeinander und blinzelt grimmig in die Kamera. Das eine Auge ist vom Star getrübt, doch das andere scharf und durchdringend, und die Pupille ist von charakteristischer dunkler Färbung.
Über ihrer Schulter sieht man den Eingang ins Innere des Schreins, lediglich ein schräger Spalt in der Felswand, so schmal, dass man dahinter unmöglich eine Höhle vermuten würde. Daneben ist ein dickbäuchiger Mann in einem dhoti zu erkennen, der versucht, eine Schar Kinder in einer Reihe aufzustellen, damit sie Diti nach drinnen folgen können.
Auch das war fester Bestandteil des Rituals: Diti hatte dafür zu sorgen, dass die Jüngsten als Erste die puja ausführten, um noch vor den anderen essen zu können. Mit einem Stock in der einen und einem Bund Kerzen in der anderen Hand führte sie all die jungen Colvers – chutkas und chutkis, laikas und laikis – geradewegs durch die saalartige Höhle in das Allerheiligste. Die ausgehungerten Kinder folgten ihr eilig und beachteten kaum die mit Zeichnungen und Graffiti verzierten Wände der äußeren Kammer. Sie rannten zu dem Teil des Schreins, den Diti ihren »puja-Raum« nannte: einen kleinen, am hinteren Ende versteckten Hohlraum im Gestein. Er bildete das Herzstück des Schreins, den Andachtsraum mit einer Ansammlung von Gottheiten, im Mittelpunkt eine der weniger bekannten Gottheiten des Hindu-Pantheons, wie in einem Tempel: Marut, der Gott des Windes und Vater von Hanuman. Hier zelebrierten sie im Licht einer flackernden Lampe rasch ihre puja, murmelten ihre Mantras und sprachen leise ihre Gebete. Nachdem sie Hände voll Blumen geopfert und große Mengen von prickelndem prasad verschlungen hatten, rannten die Kinder zum chowkey zurück, wo sie mit Atab!-Atab!-Rufen empfangen wurden – obwohl es keinen Tisch gab, von dem man essen konnte, sondern nur Bananenblätter, und keine Stühle, auf denen man sitzen konnte, sondern nur Decken und Matten.
Diese Mahlzeiten waren stets vegetarisch und zwangsläufig äußerst einfach, denn die Speisen wurden mit simpelsten Gerätschaften auf offenen Feuern gegart: Die Grundlage bildeten parathas und daalpuris, und dazu aß man bajis von pipengaye, ourougails von Tomaten und Erdnüssen, Chutneys von Tamarinden und Früchten, außerdem vielleicht den einen oder anderen achar aus Limonen oder bilimbi und womöglich sogar einen heißen mazavaroo aus Chilis und Limonen – und natürlich dahi und Ghee aus der Milch der Colver’schen Kühe. Es waren die schlichtesten Festmahle, doch wenn sie aufgegessen waren, lehnten alle hilflos an den Felswänden und klagten, dass sie sich zu sehr vollgestopft hätten, dass es in ihren Eingeweiden grolle und wie schlecht es sei, so viel zu essen, manzé zisk’araze.
Jahre später, als die Felswand unter dem Anprall eines Zyklons zerbröckelte und der Schrein bei einem Bergrutsch ins Meer gespült wurde, erinnerten sich die Kinder, die an den Pilgerfahrten teilgenommen hatten, vor allem an diese Leckereien: die parathas und daalpuris, die ourougails, mazavaroos, dahi und Ghee.
Erst wenn das Festmahl verdaut war und die Gaslampen angezündet wurden, wanderten die Kinder allmählich wieder in die äußere Kammer des Schreins, um die bemalten Wände der Höhle zu bestaunen, die Ditis »Erinnerungstempel« genannt wurde: Deetiji-ka-smriti-mandir.
Jedes Kind in der Famie wusste, wie Diti malen gelernt hatte: Sie war von ihrer Großmutter unterrichtet worden, als sie noch ein chutki von einem Kind war, in der Heimat, in Industan, in dem gaon, in dem sie geboren war. Das Dorf hieß Nayanpur und lag im nördlichen Bihar, oberhalb der Mündung zweier großer Flüsse, des Ganges und des Karamnasa. Die Häuser dort sahen ganz anders aus als die auf der Insel – keine Blechdächer und kaum irgendwo Metall oder Holz. Man wohnte in Lehmhütten, mit Stroh gedeckt und mit Kuhdung verputzt.
Die meisten Menschen in Nayanpur ließen ihre Wände kahl, doch Ditis Familie war anders: Als junger Mann hatte ihr Großvater als Silahdar in Darbhjanga gearbeitet, rund sechzig Meilen weiter östlich. Während er dort Dienst tat, hatte er in eine Rajputenfamilie aus einem Nachbardorf eingeheiratet, und seine Frau hatte ihn begleitet, als er nach Nayanpur heimkehrte, um sich dort niederzulassen.
In der alten Heimat war jede Stadt und jedes Dorf stolz auf bestimmte Dinge, mehr noch als auf Mauritius: Manche waren berühmt für ihre Keramik, andere für
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