Der rauchblaue Fluss (German Edition)
das Aroma ihres khoobi-ki-lai, manche für die Beschränktheit ihrer Bewohner, andere für die außergewöhnliche Qualität ihres Reises. Madhubani, das Dorf von Ditis Großmutter, war berühmt für seine wunderschön verzierten Häuser und herrlichen Wandmalereien. Als sie nach Nayanpur zog, brachte sie die Geheimnisse und Traditionen von Madhubani mit: Sie unterwies ihre Töchter und Enkelinnen darin, Wände mit Reismehl zu tünchen und aus Früchten, Blumen und farbiger Erde leuchtende Farben herzustellen.
Jedes Mädchen in Ditis Familie hatte ein Spezialgebiet, und ihres war die Abbildung gewöhnlicher Sterblicher, die zu Füßen der devas, devis und Dämonen herumtollten. Die Figürchen, die ihrer Hand entsprangen, hatten oft die Züge von Menschen in ihrer Umgebung: Sie waren ein privates Pantheon derer, die sie am meisten liebte und fürchtete. Sie zeichnete gern ihre Silhouetten, meist im Profil, und stattete jede mit einem charakteristischen Merkmal aus. So war ihr ältester Bruder, Kesri Sing, der als Sepoy in der Armee der Ostindien-Kompanie diente, stets an einem Symbol des Soldaten zu erkennen, meist einem rauchenden Gewehr.
Als sie heiratete und ihr Dorf verließ, merkte Diti, dass die Kunst, die sie von ihrer Großmutter gelernt hatte, im Haus ihres Mannes nicht willkommen war: Dessen Wände waren nie auch nur mit einem einzigen Pinselstrich Farbe verschönert worden. Doch selbst ihre Schwiegereltern konnten sie nicht davon abhalten, auf Blätter und Lumpen zu zeichnen und ihren puja-Raum nach Belieben zu gestalten: Die kleine Gebetsnische wurde zum Aufbewahrungsort ihrer Träume und Visionen. In den neun langen Jahren ihrer Ehe war das Zeichnen nicht nur ein Trost, sondern auch ihre wichtigste Gedächtnisstütze: Des Lesens und Schreibens unkundig, konnte sie nur auf diese Weise ihre Erinnerungen festhalten.
Diese Gewohnheiten behielt sie bei, als sie in jenes andere Leben an der Seite Kaluas entkam, der ihr zweiter Mann werden sollte. Erst als sie ihre Schiffsreise nach Mauritius angetreten hatte, entdeckte sie, dass sie von Kalua schwanger war – und man erzählte sich, dass dieses Kind, ihr Sohn Girin, sie zu dem Ort, der ihr Schrein werden sollte, geführt hatte.
Damals war Diti ein Kuli und arbeitete auf einer frisch gerodeten Plantage am anderen Ende der Bucht, der Baie du Morne. Ihr Herr war ein Franzose, ein ehemaliger Soldat, der in den Napoleonischen Kriegen verwundet worden und seitdem krank an Körper und Geist war: Er hatte Diti und acht ihrer Schiffsgenossen von der Ibis an diesen südwestlichsten Zipfel der Insel gebracht, damit sie hier ihre Zeit als Kontraktarbeiter ableisteten.
Es war damals der abgelegenste und am dünnsten besiedelte Teil von Mauritius, deshalb waren Grund und Boden dort besonders billig zu haben: Da die Gegend auf dem Landweg so gut wie gar nicht zu erreichen war, mussten alle Vorräte per Schiff angeliefert werden, und manchmal waren die Lebensmittel deswegen so knapp, dass die Kulis im Dschungel auf Nahrungssuche gehen mussten. Nirgends war der Wald reicher als am Morne, doch nur selten, wenn überhaupt, wagte es irgendjemand, dessen Hänge zu erklimmen, denn der Berg war ein verrufener Ort, an dem der Überlieferung nach schon Hunderte, womöglich Tausende von Menschen ihr Leben gelassen hatten. In den Zeiten der Sklaverei war der Morne dank seiner Unzugänglichkeit zu einem attraktiven Zufluchtsort für entflohene Sklaven geworden, die sich in großer Zahl dort niederließen. Diese Ansiedlung von Flüchtlingen – oder marrons, wie sie im Kreol hießen – , hatte bis kurz nach 1834 bestanden, als die Sklaverei auf Mauritius verboten wurde. Da sie nichts von der neuen Gesetzeslage wussten, führten die marrons ihr gewohntes Leben auf dem Morne weiter – bis zu dem Tag, als ein Trupp Soldaten am Horizont auftauchte und auf sie zumarschierte. Dass die Soldaten Boten der Freiheit sein könnten, kam ihnen nicht in den Sinn; sie hielten sie für einen Stoßtrupp und sprangen von den Felsen in den Tod.
Diese Tragödie hatte sich wenige Jahre bevor Diti und ihre Schiffsgeschwister von der Ibis über die Bucht auf die Plantage gebracht wurden zugetragen, und die Landschaft war noch gesättigt von der Erinnerung daran. Wenn oben auf dem Berg der Wind heulte, sagten die Kulis, das sei das Wehklagen der Toten, und die Angst, die es hervorrief, war so groß, dass niemand aus freien Stücken diesen Berg erklommen hätte.
Diti fürchtete sich nicht weniger vor dem
Weitere Kostenlose Bücher