Der Regler
kleinen. Maler hatte keinen besonderen Bezug zu Kirchen, aber der Sankt-Anna-Platz, das war einer seiner Lieblingsorte in München. Die beiden Kirchen, die mächtigen Kastanienbäume, vorne rechts das Knopfgeschäft, daneben die Bäckerei mit der dicken Türkin und deren noch dickerem Sohn. Die Schule, das Café, die Galerie und die Metzgerei. Maler fuhr oft schnell bei der Metzgerei vorbei und holte sich zwei Leberkässemmeln. Heute ließ er es jedoch sein. Der morgendliche Blick auf die Waage hatte eine gewisse Erschütterung hinterlassen.
Gleich vorn an der Ecke am Sankt-Anna-Platz gab es ein Lokal, das früher mal ein
Wienerwald
gewesen war, dann ein Italiener, dann ein Café. Zurzeit war es wieder ein Italiener. Aber die eigentliche Bedeutung lag für Maler darin, dass in diesem Lokal mal Teile einer Fernsehserie gedreht worden waren,
Münchner Geschichten
hatte sie geheißen, lange her. Maler hatte die Serie geliebt, und er liebte sie heute noch, er hatte alle Folgen auf DVD . Eine Gruppe junger Leute, Spezialisten in der Leichtigkeit des Seins, große Träume, keine Regeln – irgendwie ging es hauptsächlich darum. Maler musste schmunzeln, als ihm ein Dialog aus der Fernsehserie einfiel. Der Charly, die Hauptfigur, steigt in ein Taxi. Der Fahrer fragt: »Wohin wollen wir fahren?« Charly antwortet: »Irgendwohin.« Und der Fahrer sagt: »Irgendwohin, das ist schwer.«
Maler dachte jetzt auf seiner Bank, was er hier eigentlich immer dachte: Sankt-Anna-Platz, da müsste man wohnen, das wäre ein Traum. Aber der Stadtteil Lehel war im ohnehin teuren München einer der teuersten Flecken. Wie sollte sich ein Polizist das jemals leisten können? Aber er dachte noch etwas anderes, und dieser Gedanke überraschte ihn selbst: Wenn der Typ mit dem Pferd vierzig Kilometer früher auf einen Parkplatz gefahren wäre, dann müssten sich jetzt die Kollegen aus Ingolstadt mit dem grausigen Mord beschäftigen. Mit einem Toten in einem Pferdetransporter. Und mit einem Handy. Und er könnte auf der Bank sitzen bleiben, auf die jetzt die Sonne schien, die gerade hinter der kleinen Kirchenkuppel hervorgekommen war. Kommissar August Maler, 51 Jahre alt. War da jemand schon ein bisschen müde geworden?
Ein paar Minuten später läutete Maler bei Tretjak. Die Stimme aus der Sprechanlage kam schnell: »Ja, bitte?«
»Mein Name ist Maler. Ich komme von der Polizei. Ich müsste mich mit Ihnen unterhalten.«
Maler hatte sich angewöhnt, sich als Polizist vorzustellen. Mordkommission klang ihm für die ersten Worte zu dramatisch.
Tretjak stand schon an der Tür, als Maler die Treppe zum zweiten Stock hinaufkam. Ein gutaussehender Mann, dunkler, fast südländischer Typ. Er trug Jeans und darüber ein weißes Hemd. Er grinste leicht. »Das ist ein Tag. Das Finanzamt ist schon da, und jetzt kommt auch noch die Polizei …«
Der Kommissar wurde in einen großen Raum geführt, eine Art Wohnküche. Er sah einen Herd, einen großen Kühlschrank, eine Theke und davor einen schwarzen Tisch, auf dem ein paar Ordner lagen, einer davon aufgeschlagen. An dem Tisch saß eine junge Frau, die Tretjak als Beamtin vom Finanzamt München II vorstellte: »Frau Neustadt führt eine Steuerprüfung bei mir durch. Wir sind sozusagen mittendrin.«
»Maler«, sagte Maler und gab Frau Neustadt die Hand. Dann wandte er sich zu Tretjak: »Sie müssen müde sein. Sie hatten einen anstrengenden Flug, bis heute morgen. Wie lange fliegt man genau von Colombo?«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Tretjak.
»Deshalb bin ich hier«, antwortete Maler, »aber ich müsste mit Ihnen allein sprechen.«
»Habe schon verstanden«, Frau Neustadt stand auf und fing an, ihre Sachen zusammenzupacken. »Dann machen wir hier einen Punkt, Herr Tretjak, und machen übermorgen weiter, wie wir besprochen haben. Ich gebe Ihnen noch mal meine Karte« Sie lachte und gab auch Kommissar Maler eine Visitenkarte. »Wer weiß, vielleicht können Sie ja auch mal das Finanzamt brauchen.«
Nachdem sie gegangen war, stellte Tretjak eine Flasche Mineralwasser und ein Glas auf den Tisch. »Also …?«
Kommissar Maler öffnete ein Kuvert und legte Tretjak zwei Fotos hin. Auf beiden war derselbe Mann zu sehen. »Kennen Sie diesen Mann?«
»Nein.«
»Das ist Professor Harry Kerkhoff aus Rotterdam, ein sehr bekannter Hirnforscher. Man muss leider hinzufügen, das
war
Professor Kerkhoff. Er wurde gestern ermordet.«
»Mein Gott«, sagte Tretjak, »aber ich verstehe noch nicht
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