Der Regler
nicht erkannt hatte, Abschiede solle man nicht zu lange hinauszögern. Tretjak nahm die Maus und klickte durch ein paar weitere alte Bilder von Harry Kerkhoff, die Google gefunden hatte – bis ein neueres auftauchte. Tretjak griff zum Telefon und wählte die Nummer von Kerkhoffs Sohn in Rotterdam. Aber niemand nahm ab.
Der Raum, in dem sich Tretjak befand, war ursprünglich als Wohnzimmer vorgesehen. Er war fast sechzig Quadratmeter groß, hatte zwei fünfeckige Erkerfenster und eine Glastür, die auf einen kleinen Balkon führte. Tretjak brauchte kein Wohnzimmer und hatte den Raum umgestaltet. Den Parkettboden hatte er abschleifen und ölen lassen, aber nicht versiegeln. Vor den Fenstern und der Tür zum Balkon liefen mattweiße Rollos in Aluschienen, die bis zum Boden reichten. Meistens waren sie geschlossen, wie auch jetzt. An den weißen Wänden hing kein einziges Bild. Auch die Stahlträger, die an zwei Stellen die Decke stützten, wo früher Wände gewesen waren, waren weiß gestrichen. Wenn man den Raum betrat, nahm man zwei Bereiche wahr, die wie kleine Inseln wirkten. Rechts ein riesiger Tisch des dänischen Designers Hein van Eek, zusammengeleimt aus unzähligen kleinen pastellfarbenen Hölzern, dick überzogen mit Bootslack, drei Meter zwanzig lang, einen Meter vierzig breit. Keine Stühle, nur eine Bank davor, ohne Lehne. Die gesamte Fläche des Tisches und auch die Sitzfläche der Bank waren bedeckt mit Stapeln von Papieren, Büchern, Zeitungsausschnitten, Aktendeckeln, alles fein säuberlich aufeinandergetürmt, an den Kanten ausgerichtet, sichtlich einer Ordnung folgend.
Die andere Insel, links im Raum, sah aus wie eine Art Cockpit. Dort saß Tretjak jetzt, in einem schlichten anthrazitfarbenen Bürostuhl, vor sich drei Flachbildschirme, die halbkreisförmig auf einer Art Konsole angeordnet waren. Die zugehörigen Rechner, Modems und Drucker befanden sich unter der Konsole, hinter hellgrau lackierten Metallblenden.
Tretjak hatte seinen Stuhl etwas nach links gedreht, bediente mit der rechten Hand die Maus auf einem kleinen Pult und blickte auf einen weiteren Bildschirm, überdimensional, der an der Wand angebracht war. Dort war jetzt das offizielle Foto aus dem Verzeichnis der Universität Rotterdam zu sehen: Professor Doktor Harry Kerkhoff, 58, Vizepräsident der Universität, Dekan der Fakultät für Biochemische Wissenschaften. Auf den kleineren Bildschirmen hatte Tretjak verschiedene Dateien aufgerufen. Die Liste von Kerkhoffs Buchveröffentlichungen, ein Mitschnitt seines Auftritts vor der Ethikkommission der EU zum Thema Stammzellenforschung, Pressemeldungen zu dem Leichenfund gestern. Ein Bildschirm zeigte das Protokoll, das Tretjak nach seiner letzten Begegnung mit Kerkhoff geschrieben hatte. Acht Jahre war das her.
Wenn das Gehirn eine Information bekommt, wird es diese Information immer sofort verarbeiten, es wird aus dieser Information lernen
.
Man kann die Zeit nicht zurückdrehen zu dem Moment, als das Gehirn die Information noch nicht hatte. Es war Kerkhoffs große Begabung gewesen, sein Wissen auf solch verständliche Botschaften zu verdichten.
Wann gibt man wem welche Information – und was bewirkt sie? Was löst sie aus? Zu diesem Thema hatten sie sich vor Jahren immer wieder getroffen, Tretjak hatte den Hirnforscher mit Fragen provoziert – und seine Antworten notiert, analysiert, benutzt, hatte damit seine Methoden verfeinert. Wann bekommt wer welche Information?
Vielleicht war sein Nein auf die Frage des Kommissars, ob er Kerkhoff kenne, eine Art Reflex gewesen. Der Reflex eines Mannes, der immer darauf bedacht war, einen Informationsvorsprung vor seinem Gegenüber zu haben. Tretjak bereute seine Antwort. Vielleicht hatte es auch an der Arbeit mit der Steuerprüferin gelegen, dass er sich spontan entschieden hatte, eine Information lieber nicht preiszugeben.
Er rollte den Stuhl zurück und stand auf. Die Wand hinter ihm verbarg einen einzigen, großen Schrank. Alle Unterlagen zu seinen Klienten und ihren speziellen Fällen waren darin aufbewahrt. Ein Archiv voller Verbindungen und Verwicklungen, voller persönlicher Geheimnisse, voller Informationen, die irgendwann irgendwo von Nutzen gewesen waren – und es jederzeit wieder sein konnten.
Hinter einer der Türen lag ein Kühlschrank. Tretjak öffnete ihn, nahm eine kleine Flasche stilles Hildon-Mineralwasser heraus und einen Tablettenstreifen, auf dem der Schriftzug
Tavor
aufgedruckt war. Er nahm zwei Tabletten und
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