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Der Reisende

Der Reisende

Titel: Der Reisende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
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Calvin.
    »So eine Lüge«, sagte Honore. »Ihr wolltet groß sein, als Ihr jung wart, genau wie ich näher bei der Erde sein wollte, damit mein Auge die Einzelheiten sehen kann, die große Menschen übersehen. Obwohl ich darauf hoffe, eines Tages fett zu sein, denn Beleibtheit würde bedeuten, daß ich mehr als genug zu essen hatte, und das, mein lieber Yankee, wäre eine köstliche Abwechslung. Es ist ein Gemeinplatz, man würde Genies nie verstehen, und deshalb würden sie nie beliebt werden oder mit ihrer Brillanz Geld verdienen. Das halte ich für reine Torheit. Ein wahres Genie wird nicht nur klüger als alle anderen sein, sondern auch so klug, daß es weiß, wie es die Massen ansprechen kann, ohne auf seine Brillanz zu verzichten. Daher schreibe ich Romane.«
    Calvin hätte fast gelacht. »Diese dummen Geschichten, die die Frauen lesen?«
    »Dieselben. Ohnmächtig werdende Erbinnen. Dummköpfe von Ehemännern. Gefährliche Liebhaber. Erdbeben, Revolutionen, Feuersbrünste und sich einmischende Tanten. Ich schreibe unter mehreren noms de plume, aber mein Geheimnis besteht darin, daß ich nicht nur die Kunst beherrsche, beliebt und daher reich zu sein, sondern den Roman auch benutze, um den wahren Zustand der Menschheit in diesem gewaltigen Versuchsbottich zu erkunden, den man Paris nennt, in diesem Schwarm mit einer kaiserlichen Königin, die sich mit Dronen wie meinem armen, Stachel- und flügellosen Vater umgibt, dem siebenten Sekretär der Morgenschicht – Ihr habt ihm einmal einen heißen Fuß gemacht, Ihr elender Witzbold, er hat die ganze Nacht über die Erniedrigung geweint, und ich habe geschworen, Euch irgendwann zu töten, obwohl ich es wahrscheinlich doch nicht tun werde – ich habe bislang noch nie ein Versprechen gehalten.«
    »Wann schreibt Ihr? Ihr seid doch die ganze Zeit über hier?« Calvin machte eine Geste, die die umliegenden Regierungsgebäude einschloß.
    »Woher wollt Ihr das denn wissen, wenn Ihr nicht die ganze Zeit über hier seid? In der Nacht wechsle ich zwischen den großen Salons der Creme der Gesellschaft und den besten Bordellen, die der Abschaum der Erde je erschaffen hat, hin und her. Und wenn Ihr am Morgen Eure kaiserlichen Lektionen von M. Bonaparte bekommt, verkrieche ich mich in meiner elenden Dichtermansarde – in die die Haushälterin meiner Mutter mir jeden Tag frisches Brot bringt, also weint noch nicht um mich, nicht, bis ich Syphilis oder Tuberkulose bekomme – und schreibe wie wild, fülle eine Seite nach der anderen mit geistsprühender Prosa. Ich habe mich einmal mit der Versdichtung befaßt, ein langes Stück, mußte jedoch herausfinden, daß man, wenn man Racine imitiert, man in erster Linie nur lernt, so langweilig wie Racine zu werden, und wenn man Moliere studiert, lernt, daß Moliere ein hehres Genie war, mit dem elende junge Imitatoren nicht spielen sollten.«
    »Ich habe keinen von ihnen gelesen«, sagte Calvin. In Wirklichkeit hatte er nicht mal von ihnen gehört und schloß nur aus dem Zusammenhang, daß es sich um Dramatiker handeln mußte.
    »Und Ihr habt auch meine Werke noch nicht gelesen, weil es sich dabei noch nicht um Werke eines Genies, sondern nur um die eines Gesellen handelt. Ich befürchte, manchmal den Ehrgeiz zu haben, ein Genie zu sein, Auge und Ohr eines Genies, aber nur das Talent eines Schornsteinfegers zu haben. Ich steige in die schmutzige Welt hinab, ich steige schwarz hinauf, ich verstreue die Asche und Schlacke meiner Forschungen auf weiße Blätter, doch was habe ich damit erreicht? Papier mit schwarzen Zeichen überall darauf.« Plötzlich ergriff er Calvins Hemdbrust und zog ihn hinab, bis sie sich auf gleicher Höhe befanden. »Ich würde mir ein Bein abschneiden, um ein Talent wie das Eure zu haben. In den Körper sehen und ihn heilen oder zerstören zu können, ihm Schmerz oder Erleichterung zu bereiten. Ich würde mir beide Beine abschneiden.« Dann ließ er Calvins Hemd los. »Meine empfindlicheren Teile würde ich natürlich nicht aufgeben, denn damit würde ich meiner lieben Madame de Berny eine zu große Enttäuschung bereiten. Ihr werdet natürlich diskret sein, und wenn Ihr über meine Affäre mit ihr klatscht, werdet Ihr niemals eingestehen, von mir darüber gehört zu haben.«
    »Seid Ihr wirklich eifersüchtig auf mich?« fragte Calvin.
    »Nur, wenn ich bei Sinnen bin«, sagte Honore, »was so selten vorkommt, daß Ihr mein Glück noch nicht stört. Ihr seid noch keins der großen Ärgernisse meines Lebens.

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