Der Reisende
Bildung, Ehrgeiz und ohne das geringste soziale Prestige verließen, was bedeutete, daß die meisten Türen für sie verschlossen blieben und sie keine andere Wahl hatten, als in die Fußstapfen ihrer Väter zu treten und völlig vom Kaiser abhängig zu werden. Für einige von ihnen war das genau das richtige, und diese schwer arbeitenden, zufriedenen Seelen ließ Calvin in Ruhe.
Interessant für seine Zwecke waren die sprunghaften Jurastudenten, die begeisterten, aber untalentierten Dichter und Dramatiker, die tratschenden Verführer, die sich nach reichen Frauen umsahen, die gleichzeitig begehrenswert und dumm genug waren, um sich mit solchen jungen Emporkömmlingen einzulassen. Calvins Französisch wurde um so besser, je mehr er sich mit ihnen unterhielt, und während er Napoleons Lektionen umsetzte und herauszufinden lernte, welche Laster diese jungen Männer antrieben, damit er ihnen schmeicheln und sie ausnutzen und beherrschen konnte, stellte er auch fest, daß er ihre Gesellschaft genoß. Selbst die Narren unter ihnen waren mit ihrer Mattigkeit und ihrem Zynismus unterhaltsam, und dann und wann stieß er auf einen wirklich klugen und faszinierenden Burschen.
Diese ließen sich am schwersten unter Kontrolle bringen, und Calvin redete sich ein, eher die Herausforderung als das Vergnügen ihrer Gesellschaft locke ihn immer wieder zu ihnen zurück. Ganz besonders zu einem von ihnen: Honore. Ein hagerer, kleiner Mann mit vorzeitig verfaulten Zähnen, der ein Jahr älter war als Calvins Bruder Alvin. Honore zeigte nicht die geringsten Manieren, aber Calvin fand schnell heraus, daß er sich nicht so benahm, weil er keine hatte, sondern weil er die Menschen schockieren, seine Verachtung für ihre verkrusteten Sitten zum Ausdruck bringen wollte, aber hauptsächlich, weil er ihre Aufmerksamkeit wünschte und jedesmal, wenn er sie bekam, davon leicht abgestoßen war. Vielleicht bekam er anfangs ihre Verachtung oder ihren Abscheu zu spüren, aber spätestens nach fünfzehn Minuten lachten sie bereits über seinen Witz, nickten beifällig über seine Einsichten, und ihre Augen leuchteten, weil seine Konversation so betörend war.
Calvin redete sich sogar ein, Honore habe einige der Gaben, mit denen auch Napoleon geboren worden war, und wenn er ihn studierte, könne er vielleicht einige der Geheimnisse erfahren, die der Kaiser vor ihm zurückhielt.
Zuerst ignorierte Honore Calvin, nicht im besonderen, sondern auf jene allgemeine Art, auf die er jeden ignorierte, der ihm nichts zu bieten hatte. Dann mußte er von jemandem gehört haben, daß Calvin täglich den Kaiser sah, ja der Kaiser ihn sogar als persönlichen Heiler bezeichnete. Sofort wurde Calvin akzeptabel, sogar so sehr, daß Honore ihn zu seinen nächtlichen Ausflügen einlud.
»Ich studiere Paris«, sagte Honore. »Nein, ich muß mich korrigieren – ich studiere die Menschheit, und in Paris findet man so viele Exemplare dieser Spezies, daß ich auf Jahre hinweg beschäftigt sein werde. Ich studiere alle Menschen, die von der Norm abweichen, denn gerade ihre Abnormitäten bringen mir vieles über die menschliche Natur bei: Wenn die Taten dieses Menschen mich überraschen, dann, weil ich im Lauf der Jahre zu erwarten gelernt haben muß, daß die Menschen sich anders benehmen. Daher lerne ich nicht nur etwas über die Eigentümlichkeit des einen, sondern auch über die Normalität der vielen.«
»Und inwiefern bin ich eigentümlich?« fragte Calvin.
»Ihr seid eigentümlich, weil Ihr tatsächlich meinen Ideen statt nur meinem Witz lauscht. Ihr seid ein eifriger Student des Genialen, und es würde mich nicht überraschen, wenn Ihr selbst ein Genie wäret.«
»Des Genialen?« fragte Calvin.
»Der außergewöhnliche Geist, der große Männer groß macht. Perfekte Frömmigkeit verwandelt Männer in Heilige oder Engel, aber was ist mit den Menschen, die nur mäßig fromm, aber vollkommen intelligent oder weise oder scharfsinnig sind? Zu was werden sie? Zu Genies. Schutzheilige des Geistes, des Auges, des geistigen Auges! Ich möchte, daß mein Name nach meinem Tod von jenen angerufen wird, die um Weisheit beten. Sollen die Heiligen die Gebete jener haben, die Wunder brauchen.« Er hielt den Kopf schräg und sah Calvin an. »Ihr seid zu groß, um ehrlich zu sein. Große Männer erzählen immer Lügen, da sie annehmen, daß kleine Menschen nie klar genug sehen können, um ihnen zu widersprechen.«
»Ich kann nicht dafür, daß ich groß bin«, sagte
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