Der Reisende
»Honore, ich bin sicher, Ihr scherzt. Ihr erschafft doch auch etwas – zumindest Eure Romane.«
»Und würdet Ihr mich hassen, würdet Ihr mir nicht einfach meine Tantiemen abnehmen – das tun schon meine Gläubiger, vielen Dank. Nein, Ihr würdet meine Bücher selbst nehmen, mir das Urheberrecht stehlen und sie dann immer wieder überarbeiten, bis nichts mehr von ihrer Wahrheit oder Schönheit oder, um genauer zu sein, von meinem Genie in ihnen verblieben ist, und dann würdet Ihr sie weiterhin unter meinem Namen veröffentlichen und mich mit jedem verkauften Exemplar beschämen. Die Leute würden sie lesen und sagen: ›Honore de Balzac, so ein Narr!‹ So würdet Ihr mich vernichten.«
»Ich bin keine Gestalt aus Euren Büchern.«
»Leider! Denn dann würdet Ihr interessantere Dialoge führen.«
»Ihr glaubt also, ich verschwende hier meine Zeit?«
»Ich glaube, Ihr seid drauf und dran, Eure Zeit zu verschwenden. Napoleon ist kein Narr. Er wird Euch niemals Werkzeuge in die Hand geben, mit denen Ihr seine Macht herausfordern könntet. Also geht!«
»Wie kann ich gehen, wenn ich verhindern muß, daß seine Gicht ihm Schmerzen bereitet? Ich würde es niemals bis zur Grenze schaffen.«
»Dann heilt die Gicht, wie Ihr diese armen Bettler geheilt habt – das war übrigens sehr grausam von Euch, elendig selbstsüchtig. Denn was glaubt Ihr, wie sie ihre Kinder ernähren können, wenn sie nicht ein paar eiternde Wunden vorzuweisen haben, mit denen sie bei den Passanten Mitleid hervorrufen und ihnen ein paar Sous abluchsen können? Diejenigen von uns, die von Eurer messianischen Alleinmission wußten, mußten Euch folgen und Euren Opfern die Beine abschneiden, damit sie sich auch weiterhin ihren Lebensunterhalt verdienen können.«
Calvin war entsetzt. »Wie konntet Ihr so etwas tun?«
Honore brüllte vor Gelächter. »Das war nur ein Scherz, Ihr armer, nüchtern denkender amerikanischer Einfaltspinsel!«
»Ich kann die Gicht nicht heilen«, sagte Calvin und wandte sich damit wieder dem Thema zu, das ihn in erster Linie interessierte: seine eigene Zukunft.
»Warum nicht?«
»Ich habe herauszufinden versucht, wie Krankheiten verursacht werden. Verletzungen sind einfach. Infektionen ebenfalls. Zumindest, wenn man sich konzentriert. Für andere Krankheiten habe ich Wochen gebraucht. Sie scheinen von winzigen Geschöpfen verursacht zu werden, die so klein sind, daß ich sie einzeln nicht sehen kann, nur en masse. Die kann ich problemlos vernichten und die Krankheit heilen, oder zumindest ein wenig zurückdrängen und dem Körper damit die Gelegenheit geben, sie aus eigener Kraft zu besiegen. Aber nicht alle Krankheiten werden von diesen winzigen Tierchen verursacht. Gicht stellt mich vor ein völliges Rätsel. Ich habe keine Ahnung, was die Krankheit verursacht, und kann sie daher auch nicht heilen.«
Honore schüttelte seinen übergroßen Kopf. »Calvin, Ihr habt so beeindruckende natürliche Talente, seid aber nicht würdig, daß sie Euch verliehen worden sind. Wenn ich sage, Ihr müßt Napoleon heilen, ist es mir natürlich völlig egal, ob Ihr die Gicht wirklich heilt. Nicht die Gicht stört ihn, sondern die Schmerzen, die die Gicht hervorruft. Und die heilt Ihr bereits Tag für Tag! Also heilt sie ein für alle Mal, dankt Napoleon freundlich für das, was er Euch beigebracht hat, und verschwindet so schnell wie möglich aus Frankreich! Bringt es hinter Euch! Macht Euch wieder an Euer Lebenswerk. Ich will Euch was sagen – ich bezahle Euch sogar die Passage nach Amerika. Nein, ich werde noch mehr tun. Ich werde Euch nach Amerika begleiten und das Studium dieses erstaunlich ungehobelten und kraftvollen Volks meinem sowieso schon gewaltigen Wissen über die Menschheit hinzufügen. Was könnten wir beide gemeinsam mit Eurem Talent und meinem Genie nicht alles bewerkstelligen?«
»Alles«, sagte Calvin glücklich.
Er war besonders glücklich, weil er keine fünf Minuten zuvor beschlossen hatte, Honore solle ihn nach Amerika begleiten, und so hatte er den jungen Romanautor mit winzigen Gesten und gewissen Blicken und Zeichen, die Honore gar nicht bemerkt hatte, dazu gebracht, ihn zu mögen, sich für die Arbeit zu begeistern, die Calvin tun mußte, und den so starken Wunsch zu verspüren, Teil davon zu sein, daß er mit ihm nach Amerika kommen wollte. Und am besten daran war, Calvin hatte das alles so geschickt angestellt, daß Honore offensichtlich keine Ahnung hatte, manipuliert worden zu sein.
Inzwischen
Weitere Kostenlose Bücher