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Der Reisende

Der Reisende

Titel: Der Reisende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
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Aber was meine Mutter betrifft – ich habe meine frühe Kindheit damit verbracht, mich nach einem Zeichen ihrer Liebe zu verzehren, nach einer sanften Berührung aus Zuneigung, und wurde statt dessen immer mit Kälte und Tadel begrüßt. Nichts, was ich tat, konnte ihr gefallen. Viele Jahre lang dachte ich, dies läge daran, weil ich ein schlechter Sohn sei. Dann wurde mir plötzlich klar, daß sie eine schlechte Mutter war! Sie haßte nicht mich, sie haßte meinen Vater. Deshalb nahm sie sich in einem Jahr, in dem ich auf dem Internat war, einen Liebhaber – und sie traf eine gute Wahl, er ist ein sehr guter Mann, den ich wirklich respektiere – und ließ sich von ihm schwängern und gebar ein Ungetüm.«
    »Mißgebildet?« fragte Calvin neugierig.
    »Nur moralisch. Ansonsten ist er ziemlich attraktiv, und meine Mutter liebt ihn abgöttisch. Jedesmal, wenn ich sehe, wie sie um ihn herumscharwenzelt, ihn lobt, über seine klugen kleinen Possen lacht, sehne ich mich danach, wie Josefs Brüder zu handeln und ihn in eine Grube zu werfen, aber ich wäre nicht so weichherzig, ihn wieder herauszuholen und lediglich in die Sklaverei zu verkaufen. Er wird wahrscheinlich auch großgewachsen werden, und sie wird dafür sorgen, daß er vollen Zugriff auf ihr Vermögen bekommt, im Gegensatz zu mir, der ich gezwungen bin, von den paar Kröten zu leben, die mein Vater mir geben kann, den Vorschüssen, die ich aus meinen Verlegern herauspressen kann, und den großzügigen Beweisen der Dankbarkeit der Frauen, für die ich der Gott der Liebe bin. Nach sorgfältiger Überlegung bin ich zu dem Schluß gelangt, daß Kain, genau wie Prometheus, einer der großen Wohltäter der Menschheit war, wofür er von Gott natürlich endlos gefoltert werden muß. Zumindest muß er ihm dafür einen sehr häßlichen Pickel mitten auf seiner Stirn geben. Denn Kain hat uns gelehrt, daß man manche Brüder einfach nicht ertragen kann und die einzige Lösung darin besteht, sie zu töten oder töten zu lassen. Da ich ein Mensch mit einer faulen Veranlagung bin, neige ich zur zweiten Möglichkeit. Außerdem kann man im Gefängnis keine schöne Kleidung tragen, und nachdem man wegen Mordes geköpft wurde, sitzt der Kragen nicht mehr richtig; er rutscht stets entweder auf der einen oder auf der anderen Seite hinab. Also heuere ich lieber jemanden an, der es tut, oder sorge dafür, daß er in irgendeiner fernen Kolonie eine elende Anstellung als Priester bekommt. Ich habe Reunion im Indischen Ozean im Sinn; mein einziger Einwand ist, daß dieses Pünktchen auf dem Globus vielleicht doch so groß ist, daß Henry nicht den gesamten Umfang seiner Heimatinsel auf einmal sehen kann. Ich will, daß er sich in jedem wachen Augenblick wie in einem Gefängnis vorkommt. Ich nehme an, das ist lieblos von mir.«
    Lieblos? Calvin lachte erfreut und unterhielt Honore im Gegenzug mit Geschichten über seinen schrecklichen Bruder. »Nun dann«, sagte Honore, »Ihr müßt ihn natürlich vernichten. Was tut Ihr hier in Paris, wenn Ihr eine so große Aufgabe bewältigen müßt?«
    »Ich lerne von Napoleon, wie ich über andere Menschen herrschen kann. Wenn mein Bruder also seine Kristallstadt baut, kann ich sie ihm abnehmen.«
    »Ihm abnehmen! So seichte Ziele!« sagte Honore. »Was habt Ihr davon, sie ihm abzunehmen?«
    »Nun ja, er hat sie gebaut«, sagte Calvin, »oder er wird sie bauen, und dann muß er zusehen, wie ich über alles herrsche, was er geschaffen hat.«
    »Ihr denkt so, weil Ihr von Natur aus ein gemeiner Mensch seid, Calvin, und nette Leute nicht versteht. Für Euch liegt das Ende der Existenz darin, Dinge zu beherrschen, und so werdet Ihr niemals etwas bauen, sondern nur versuchen, die Herrschaft über das an Euch zu reißen, was bereits existiert. Aber Euer Bruder ist von Natur aus ein Schöpfer, wie Ihr mir erklärt habt; daher interessiert ihn nicht, wer über etwas herrscht, sondern nur, was existiert. Wenn Ihr ihm also die Herrschaft über die Kristallstadt nehmt – nachdem er sie gebaut hat –, habt Ihr nichts erreicht, denn er wird sich noch immer darüber freuen, daß es das Ding überhaupt gibt, ganz gleich, wer darüber herrscht. Nein, Ihr könnt nichts anderes tun, als abzuwarten, bis der Bau der Stadt vollendet ist – und sie dann einzureißen, so daß nur ein nutzloser Schutthaufen übrig bleibt, aus dem nie wieder etwas errichtet werden kann.«
    Calvin war verwirrt. So hatte er das noch nie gesehen, und es fühlte sich nicht richtig an.

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