Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Reisende

Der Reisende

Titel: Der Reisende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
Vom Netzwerk:
fand er immer mehr Gefallen an Honores Idee, Napoleons Schmerz ein für alle Mal zu heilen. Diese Stelle im Gehirn, in der der Schmerz wohnte, wartete noch immer auf ihn. Statt sie zu stimulieren, mußte er sie lediglich kauterisieren. Damit würde er nicht nur Napoleons Gicht heilen, sondern auch alle anderen Schmerzen, die der Kaiser in Zukunft fühlen würde.
    Nachdem er also darüber nachgedacht und den Entschluß gefaßt hatte, es zu tun, handelte Calvin noch in der folgenden Nacht. Und als er sich am Morgen dem Kaiser präsentierte, merkte er sofort, daß der Kaiser wußte, was er getan hatte.
    »Ich habe mich heute morgen geschnitten, als ich einen Bleistift spitzte«, sagte Napoleon. »Ich habe es erst gemerkt, als ich das Blut sah. Ich habe nicht den geringsten Schmerz gefühlt.«
    »Ausgezeichnet«, sagte Calvin. »Ich habe endlich eine Möglichkeit gefunden, den Schmerz, den Euch die Gicht bereitet, ein für alle Mal zu beenden. Dazu mußte ich für den Rest Eures Lebens auch alle anderen Schmerzen ausschalten, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß Ihr etwas dagegen habt.«
    Napoleon wandte den Blick ab. »Midas konnte sich auch nicht vorstellen, nicht zu wollen, daß sich alles, was er je berührte, in Gold verwandelte. Ich hätte verbluten können, weil ich keinen Schmerz spürte.«
    »Wollt Ihr mich tadeln?« fragte Calvin. »Ich habe Euch ein Geschenk gemacht, um das Millionen von Menschen beten – ein Leben ohne Schmerz –, und Ihr weist mich zurecht? Ihr seid der Kaiser – stellt einen Diener dazu ab, Tag und Nacht auf Euch acht zu geben und dafür zu sorgen, daß Ihr nicht verblutet, ohne es zu merken.«
    »Das hält an?« fragte Napoleon.
    »Ich kann die Gicht nicht heilen – diese Krankheit ist zu fein für mich. Aber den Schmerz kann ich beseitigen, und das habe ich getan. Ich habe ihn jetzt und für immer geheilt. Sollte ich etwas Falsches getan haben, werde ich Euch den Schmerz zurückgeben, so gut es mir möglich ist. Die Operation wird nicht angenehm sein, aber ich glaube, ich bekomme das Gleichgewicht in etwa wieder so hin, wie es vorher war. In Abständen auftretend, nicht wahr? Einen Monat Gicht, und dann eine Woche ohne sie, und dann wieder einen Monat?«
    »Du bist frech geworden.«
    »Nein, Sire, ich beherrsche jetzt lediglich die französische Sprache besser, so daß meine natürliche Frechheit deutlicher zum Vorschein kommt.«
    »Was sollte mich dann davon abhalten, dich einfach hinauszuwerfen? Oder dich töten zu lassen, jetzt, wo ich dich nicht mehr brauche?«
    »Nichts hat Euch je davon abgehalten, dies zu tun«, sagte Calvin. »Aber Ihr tötet keine Menschen, wenn es nicht unbedingt nötig ist, und was das Hinauswerfen betrifft – nun, warum solltet Ihr Euch diese Mühe machen? Ich gehe gern freiwillig. Ich habe Heimweh nach Amerika. Meine Familie lebt dort.«
    »Ich habe dir noch viel beizubringen.«
    »Und ich habe noch viel zu lernen. Aber ich fürchte, ich bin nicht klug genug, um von Euch zu lernen – in den letzten Wochen habt Ihr mich unentwegt unterrichtet, und doch habe ich den Eindruck, nichts Neues gelernt zu haben. Ich bin ganz einfach kein so guter Schüler, als daß ich Eure Lektionen begreifen könnte. Warum sollte ich bleiben?«
    Napoleon lächelte. »Gut gemacht. Wirklich sehr gut. Wäre ich nicht Napoleon, hättest du mich völlig überzeugt. Wahrscheinlich würde ich dir sogar deine Passage nach Amerika bezahlen.«
    »Ich hatte gehofft, das würdet Ihr trotzdem tun, aus Dankbarkeit für ein schmerzfreies Leben.«
    »Kaiser können es sich nicht leisten, Gefühle wie Dankbarkeit zu haben. Wenn ich dir die Passage bezahle, dann nicht, weil ich dir dankbar bin, sondern, weil ich der Ansicht bin, daß meinen Zwecken besser gedient ist, wenn du fort bist und lebst, als … sagen wir … wenn du hier bist und lebst, oder vielleicht hier und tot bist, oder … die schwierigste Möglichkeit … fort und tot bist.« Napoleon lächelte.
    Calvin erwiderte das Lächeln. Sie verstanden einander, der Kaiser und der junge Schöpfer. Sie hatten einander benutzt, waren nun miteinander fertig und würden einander fallen lassen – aber mit Stil.
    »Eure Zustimmung vorausgesetzt, werde ich noch heute den Zug zur Küste nehmen, Sire.«
    »Meine Zustimmung! Ihr habt mehr als nur meine Zustimmung! Meine Diener haben bereits Eure Taschen gepackt und mittlerweile zweifellos schon zum Bahnhof gebracht.« Napoleon grinste, berührte bei einem imaginären Gruß seine Stirnlocke

Weitere Kostenlose Bücher