Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Reisende

Der Reisende

Titel: Der Reisende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
Vom Netzwerk:
gestorben«, sagte Alvin. »Du hast auch hier noch ein Volk.«
    »Das steht ebenfalls mit einem Bein an einem und mit dem anderen an einem anderen Ort.« Er schaute zu einem Canyon, der zu einer Lücke zwischen den unglaublich hohen Bergen hinaufführte. »Sie leben in einem Hochgebirgstal. Der Schnee kommt dieses Jahr spät, und darüber sind sie froh, auch wenn es bedeutet, daß es nächstes Jahr nur wenig Wasser und eine schlechte Ernte geben wird. Das ist jetzt unser Leben, Alvin Maker. Früher haben wir an einem Ort gelebt, an dem Wasser aus dem Boden sprang, wo immer man einen Stock hineinsteckte.«
    »Aber die Luft ist klar. Ihr könnt ewig weit sehen.«
    Tenskwa-Tawa legte einen Finger auf Alvins Lippen. »Niemand sieht ewig weit. Aber einige sehen weiter. Im letzten Winter ritt ich auf einem Wasserturm über dem heiligen See Timpa-Nogos in den Himmel. Ich sah viele Dinge. Ich sah, daß du hierher kommen wirst. Ich habe die Nachrichten gehört, die du mir brachtest, und die Frage, die du stelltest.«
    »Und hast du auch deine Antwort gehört?«
    »Zuerst mußt du dafür sorgen, daß meine Vision wahr wird«, sagte Tenskwa-Tawa.
    Und so erzählte Alvin ihm, daß Harrison zum Präsidenten gewählt worden war, weil er sich seiner blutigen Hände gerühmt hatte, und daß sie sich fragten, ob Tenskwa-Tawa die Leute von Vigor Church von ihrem Fluch befreien könnte, damit sie ihre Heimat verlassen und Teil der Kristallstadt werden konnten, wenn Alvin sie irgendwann bauen würde. »War es das, was du mich dich hast fragen hören?«
    »Ja«, sagte Tenskwa-Tawa.
    »Und wie lautete deine Antwort?«
    »Ich habe meine Antwort nicht gesehen«, sagte Tenskwa-Tawa. »Also konnte ich all diese Monate darüber nachdenken, wie sie lauten sollte. All diese Monate zogen die Angehörigen meines Volks, die auf diesem Grashang gestorben sind, in meinem Schlaf an meinen Augen vorbei. Ich habe immer wieder gesehen, wie ihr Blut das Gras hinabfloß und den Tippy-Canoe rot färbte. Ich habe die Gesichter der Kinder und Babys gesehen. Ich kannte sie alle mit Namen, und ich erinnere mich noch immer an alle Namen und alle Gesichter. Und jeden, den ich in diesem Traum sehe, frage ich: Vergibst du diesen weißen Mördern? Verstehst du ihren Zorn und wirst du billigen, daß ich dein Blut von ihren Händen nehme?«
    Tenskwa-Tawa hielt inne. Alvin wartete ebenfalls. Man bedrängte keinen Schamanen, der seine Träume erzählte.
    »Diesen Traum habe ich jede Nacht gehabt, bis schließlich gestern nacht der letzte von ihnen vor mich getreten ist und ich ihm meine Frage stellen konnte.«
    Erneut Schweigen. Erneut wartete Alvin geduldig. Nicht geduldig auf die Art und Weise, wie ein Weißer wartet, der seine Geduld zeigt, indem er sich umschaut oder seine Finger bewegt oder irgend etwas anderes tut, um den Fluß der Zeit zu markieren. Alvin wartete mit der Geduld eines Roten, als müsse dieser Augenblick in sich selbst genossen werden, als sei die Spannung des Wartens an sich eine Erfahrung, die man sich genau einprägen mußte.
    »Hätte auch nur einer von ihnen gesagt, ich vergebe ihnen nicht, nimm den Fluch nicht von ihnen, würde ich den Fluch nicht von ihnen nehmen«, sagte Tenskwa-Tawa. »Wenn auch nur ein Baby gesagt hätte, ich verzeihe ihnen nicht, daß sie mir die Tage geraubt haben, die ich wie ein Reh über die Wiesen gelaufen wäre, würde ich den Fluch nicht von ihnen nehmen. Hätte auch nur eine Mutter gesagt, ich verzeihe ihnen nicht, weil das Baby, das in meinem Leib war, als ich starb, mit seinen wunderschönen Augen nie das Licht des Tages gesehen hat, würde ich den Fluch nicht von ihnen nehmen. Hätte auch nur ein Vater gesagt, der Zorn in meinem Herzen ist noch heiß, und wenn du den Fluch von ihnen nimmst, habe ich noch immer etwas ungerächten Haß in mir, würde ich den Fluch nicht von ihnen nehmen.«
    Tränen strömten Alvins Gesicht hinab, denn nun kannte er die Antwort, und er konnte sich nicht vorstellen, jemals so gut zu sein, daß er selbst im Tod jenen vergeben könnte, die ihm und seiner Familie etwas so Schreckliches angetan hatten.
    »Ich habe auch die Lebenden gefragt«, sagte Tenskwa-Tawa. »Diejenigen, die Vater und Mutter verloren haben, Bruder und Schwester, Onkel und Tante, Kind und Freund, Lehrer und Helfer, Jagdgefährte und Frau und Mann. Hätte auch nur einer dieser Lebenden gesagt, ich kann ihnen noch nicht vergeben, Tenskwa-Tawa, würde ich den Fluch nicht von ihnen nehmen.«
    Dann verstummte er ein

Weitere Kostenlose Bücher