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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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Pilzen bestellen können, aber mein Vater war ein vorzüglicher Koch! Alles, was er zubereitete, von Spiegeleiern und Haferbrei bis zu Kalbskoteletts, Fischsuppe und Torten, war ein Kunstwerk. Was nicht verwunderlich ist – zwischen der Fotografie und der Kochkunst gibt es viele Berührungspunkte.
    Es ging jedoch nicht um meinen Vater, sondern um seinen ehemaligen Kollegen. Der wollte und konnte sich wahrscheinlich in kein Restaurant setzen. Allerdings, was für eine Arbeit er leitete, was für einen Posten er bekleidete, das weiß der Teufel.
    Die Worte meines Vaters, ich solle heute zu Hause bleiben, hörten sich ziemlich albern an. Ich verließ das Haus fast schon eine Woche nicht.
    Und das wusste mein Vater genau. Er wollte mir einfach deutlich machen, dass sich heute Abend mein Schicksal entscheiden würde, mir zu verstehen geben: Dieser Mann, der heute am späten Abend zu kommen versprochen hatte, war die letzte Hoffnung.
    Ich saß in einer dunklen Ecke unseres großen gemeinsamen Zimmers und starrte in das Schummerlicht. Die Gestalt meines Vaters, der, die Zeitung in den Händen, im Sessel saß, erschien mir als eine Art Fleck, heller als der Hintergrund. Der von der Stehlampe – die Stehlampen wechselten übrigens auch, von Zeit zu Zeit meinte mein Vater, mit der Mode gehen zu müssen, und die Stehlampe mit Plastikschirm und vernickeltem Stab wurde abgelöst durch ein altes Stück mit rüschenbesetztem Stoffschirm – gebildete Lichtkreis mit dem Sessel in der Mitte war, würde ich sagen, leer. Mein Vater saß in dem Sessel, und zugleich saß er da nicht.
    Ungeachtet unserer gemeinsamen Gabe, unserer Verwandtschaft, unserer äußerlichen Ähnlichkeit lebten wir in verschiedenen Welten. Damals schon. Zwischen ihnen gab es Brücken und Stege, doch keine Übereinstimmung. Ob das meinen Vater bekümmerte? Ich denke, ja. Mir ist das seit einiger Zeit schnurz, und die damaligen Kümmernisse meines Vaters sind es mir auch. Schade nur, dass er das nie mehr erfahren wird.
     
    Er musste seine Worte wiederholen. Ich reagierte nicht. Ich nahm sie nicht einmal wahr. Mein Vater stand jäh auf – die Zeitung fiel raschelnd zu Boden, lag einen Moment still, raschelte, zur Seite geschleudert, noch einmal –, trat zu mir und beugte sich herab.
    »Was ist!«, sagte er und hob mit der Linken mein Kinn an. »Lässt du dich hängen? Reiß dich zusammen!« Und er klatschte mir die Rechte auf die Wange.
    Mein Kopf flog herum, der Hinterkopf schlug gegen den Wandteppich. Aus meinen Augen flössen Tränen, die Umgebung begann die gewohnten Umrisse anzunehmen. Mein Vater versetzte mir einen etwas schwächeren Schlag mit der Linken und dann einen dritten, noch schwächeren, mit der Rechten. Mein Kopf fuhr hin und her, ich brach in lautloses Schluchzen aus.
    »Pfui Teufel!«, sagte mein Vater. »Schwächling!« Er richtete sich auf und zog die gestärkten Manschetten seines weißen Hemdes zurecht. Dann kehrte er, nicht eben groß, mit gerader Haltung, ohne Eile zu seinem Sessel zurück.
    »Geh dich waschen!«, befahl er und verwandelte sich wieder in den Fleck.
    Ich kroch vom Sofa herunter, schlurfte zum Bad und drehte das Wasser auf. Ich wollte in den Spiegel sehen, scheute mich aber, meinem Blick zu begegnen. Ich wusch mich, trocknete mich ab und kehrte ins große Zimmer zurück.
    »Geh in dein Zimmer!«, lautete der neue Befehl meines Vaters. »Und zieh dich um! Ich habe dir gesagt, du sollst dich unterstehen, in Trainingshosen zu erscheinen! Schnell!«
    Ich ging in mein Zimmer, schloss die Tür und warf mich bäuchlings aufs Bett.
    Nach meinem Eindruck war es fast schon Nacht, als der Besucher erschien, ich hörte nicht nur, wie es an unserer Tür klingelte – unsere Klingel hatte einen erstaunlich feinen Klang –, sondern auch, wie mein Vater im Korridor seinem ehemaligen Kollegen auf die Schulter schlug und der selbstzufrieden, mit tiefem Bass bestätigte:
    »Ja, ja, ich bin es!«
    Sie setzten sich in das große Zimmer, wo mein Vater nach meiner Vertreibung den Tisch gedeckt und in Erwartung des Gastes über Imbiss und Flaschen eine große gestärkte Serviette gebreitet hatte. Sie tranken, und der Besucher begann sogleich Erinnerungen aufzufrischen.
    Schon seinen ersten Worten entnahm ich, dass sie keineswegs im Norden zusammen Dienst getan hatten. Offenbar bedeutete mein Vater seinem ehemaligen Kollegen, dass er nicht allein in der Wohnung war, der Besucher verminderte etwas seine Lautstärke, doch die dann geleerten

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