Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Richter und sein Henker (German Edition)

Der Richter und sein Henker (German Edition)

Titel: Der Richter und sein Henker (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
Vom Netzwerk:
antwortete nicht sofort. Erst als sie in die Straße Biel-Neuenburg einbogen, meinte er, und seine Stimme klang wieder wie sonst:
    »Die Höhe tut nicht immer gut, Kommissär.«

Fünfzehntes Kapitel

    Noch am selben Abend ging Bärlach zu seinem Arzt am Bärenplatz, Doktor Samuel Hungertobel. Die Lichter brannten schon, von Minute zu Minute brach eine immer finsterere Nacht herein. Bärlach schaute von Hungertobels Fenster auf den Platz hinunter, auf die wogende Flut der Menschen. Der Arzt packte seine Instrumente zusammen. Bärlach und Hungertobel kannten sich schon lange, sie waren zusammen auf dem Gymnasium gewesen.
    »Das Herz ist gut«, sagte Hungertobel, »Gott sei Dank!«
    »Hast du Aufzeichnungen über meinen Fall?« fragte ihn Bärlach.
    »Eine ganze Aktenmappe«, antwortete der Arzt und wies auf einen Papierstoß auf dem Schreibtisch. »Alles deine Krankheit.«
    »Du hast zu niemandem über meine Krankheit geredet, Hungertobel?« fragte der Alte.
    »Aber Hans?!« sagte der andere alte Mann, »das ist doch Arztgeheimnis.«
    Drunten auf dem Platz fuhr ein Mercedes vor, leuchtete unter einer Straßenlaterne blau auf, hielt zwischen anderen Wagen, die dort parkten. Bärlach sah genauer hin. Tschanz stieg aus und ein Mädchen in weißem Regenmantel, über den das Haar in blonden Strähnen floß.
    »Ist bei dir einmal eingebrochen worden, Samuel?« fragte der Kommissär.
    »Wie kommst du darauf?«
    »Nur so.«
    »Einmal war mein Schreibtisch durcheinander«, gestand Hungertobel, »und deine Krankheitsgeschichte lag oben auf dem Schreibtisch. Geld fehlte keins, obschon ziemlich viel im Schreibtisch war.«
    »Und warum hast du das nicht gemeldet?«
    Der Arzt kratzte sich im Haar. »Geld fehlte, wie gesagt, keins, und ich wollte es eigentlich trotzdem melden. Aber dann habe ich es vergessen.«
    »So«, sagte Bärlach, »du hast es vergessen. Bei dir wenigstens geht es den Einbrechern gut.« Und er dachte: Daher weiß es also Gastmann. Er schaute wieder auf den Platz hinunter. Tschanz trat nun mit dem Mädchen in das italienische Restaurant. Am Tage seiner Beerdigung, dachte Bärlach und wandte sich nun endgültig vom Fenster ab. Er sah Hungertobel an, der am Schreibtisch saß und schrieb.
    »Wie steht es nun mit mir?«
    »Hast du Schmerzen?«
    Der Alte erzählte ihm seinen Anfall.
    »Das ist schlimm, Hans«, sagte Hungertobel, »wir müssen dich innert drei Tagen operieren. Es geht nicht mehr anders.«
    »Ich fühle mich jetzt wohl wie nie.«
    »In vier Tagen wird ein neuer Anfall kommen, Hans«, sagte der Arzt, »und den wirst du nicht mehr überleben.«
    »Zwei Tage habe ich also noch Zeit. Zwei Tage. Und am Morgen des dritten Tages wirst du mich operieren. Am Dienstagmorgen.«
    »Am Dienstagmorgen«, sagte Hungertobel.
    »Und dann habe ich noch ein Jahr zu leben, nicht wahr, Samuel?« sagte Bärlach und sah undurchdringlich wie immer auf seinen Schulfreund. Der sprang auf und ging durchs Zimmer.
    »Wie kommst du auf solchen Unsinn!«
    »Von dem, der meine Krankheitsgeschichte las.«
    »Bist du der Einbrecher?« rief der Arzt erregt.
    Bärlach schüttelte den Kopf: »Nein, nicht ich. Aber dennoch ist es so, Samuel; nur noch ein Jahr.«
    »Nur noch ein Jahr«, antwortete Hungertobel, setzte sich an der Wand seines Ordinationszimmers auf einen Stuhl und sah hilflos zu Bärlach hinüber, der in der Mitte des Zimmers stand, in ferner, kalter Einsamkeit, unbeweglich und demütig, vor dessen verlorenem Blick der Arzt nun die Augen senkte.

Sechzehntes Kapitel

    Gegen zwei Uhr nachts wachte Bärlach plötzlich auf. Er war früh zu Bett gegangen, hatte auch auf den Rat Hungertobels hin ein Mittel genommen, das erste Mal, so daß er zuerst sein heftiges Erwachen diesen ihm ungewohnten Vorkehrungen zuschrieb. Doch glaubte er wieder, durch irgendein Geräusch geweckt worden zu sein. Er war – wie oft, wenn wir mit einem Schlag wach werden – übernatürlich hellsichtig und klar; dennoch mußte er sich zuerst orientieren, und erst nach einigen Augenblicken – die uns dann Ewigkeiten scheinen – fand er sich zurecht. Er lag nicht im Schlafzimmer, wie es sonst seine Gewohnheit war, sondern in der Bibliothek; denn, auf eine schlechte Nacht vorbereitet, wollte er, wie er sich erinnerte, noch lesen; doch mußte ihn mit einem Male ein tiefer Schlaf übermannt haben. Seine Hände fuhren über den Leib, er war noch in den Kleidern; nur eine Wolldecke hatte er über sich gebreitet. Er horchte. Etwas fiel auf den Boden, es war das

Weitere Kostenlose Bücher