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Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Titel: Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožić
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erster tag
    Die Vögel haben sich alle versammelt. So ist es immer. Wenn ich irgendwo neu bin, kommen die Vögel und wollen mit mir reden. Ich wollte nie viel reden. Das hat mich seit jeher müde gemacht, und wenn ich mehr als drei Sätze gesagt habe, hat mein Körper sich angefühlt wie der Körper einer Fremden. Als die kleinen Risse in meinem Bewusstsein begannen, wurde das Müdesein beim Reden immer schlimmer für mich. Ich entdeckte Lücken in meiner Erinnerung. Unser Arzt sprach von Anfällen. Pétit mal. So nannte er die Pausen in meinem Gedächtnis . Manchmal wurde mein Kopf von einer mir unbekannten Kraft nach hinten gezogen. Vor den Augen meiner Familie war kein Entkommen. Und wenn das kleine Übel vorbeigezogen war, nannten meine Eltern mich ihre Sternguckerin. Ihre Worte pulverisierten sich in mir. Sie schienen es alle zu bemerken. Vor allem meine Mutter hielt mich unter strenger Beobachtung, Wochen, Monate ging das so, bis sich alle ein bisschen an meinen kleinen Makel gewöhnt hatten. Meine Absencen waren mir selbst im Augenblick, in dem sie stattfanden, nicht bewusst. Erst später tauchten Fragen, unbekannte Bilder und Sätze auf. Mutter fing an zu beten und schüttelte mich, jedes Mal wenn es geschah. Sie stiftete alle in meiner Umgebung an, mich genau in Augenschein zu nehmen.
    Es geschah zum ersten Mal, als ich sechs Jahre alt war. 1978. Onkel Milan und Tante Sof ij a verschwanden mitten im Sommer aus unseren Leben. Ich spürte ein Kribbeln in meinem Hinterkopf. Dann schien ein Kreis in meiner Stirn geschlossen zu werden. Ein Picken zwischen meinen Augen. Der Specht vergnügt sich pickend am Baum. Die Spatzen, in den Beeten. Die Stare, am Kirschbaum. Und wer machte das immerzu in meiner Stirn? Ich bekam keine Antworten, das nicht, aber ich lernte, in meine Fragen hineinzuleben.
    Im Treppenhaus ist mein neuer Nachbar zu hören. Im Hof das Gezwitscher der Vögel. Ein großer Gesang mal wieder. In den Bäumen. Ich werde begrüßt. Besonders eine Maulbeere liebe ich. In meiner neuen Wohnung ist es ruhig. Berlin. Eine Stadt, in der seit dem Mauerfall immer alle leben wollten. Der neue Nachbar ist ein Läufer. Stahlblaue Augen. Sehr höflich, ein minimalistischer Westdeutscher. Er sieht freundlich aus und hat keinen Sinn für Mode, scheint ein bisschen in den Achtzigern stecken geblieben zu sein. Ich habe ihn schon bei der Wohnungsbesichtigung im Treppenhaus getroffen. Wir haben kurz miteinander gesprochen. Er hat etwas über das Jahr des Mauerfalls gesagt, irgendetwas mit Fieber. 1989 war ein Fieber. So etwas hat er, glaube ich, gesagt. Alle wollten nach Berlin. Historische Verlockungen. Mich hat das nicht interessiert. Ich war Studentin an der Philosophischen Fakultät und wollte nicht nach Berlin, ich wollte nach Paris.
    Bei dieser Gelegenheit erklärte mir Vater, warum Onkel Milan aus Jugoslawien verschwunden war. Er war aus politischen Gründen geflüchtet und lebte seit dem Ende der Siebzigerjahre mit seiner Frau Sof ij a in der Nähe von Versailles, in einem Ort namens Meudon Val-Fleury, umzingelt von Wäldern. Mutter und Vater war es wichtig, dass ich immer zu unseren Verwandten gehen konnte. Deshalb waren sie sofort einverstanden und erlaubten mir, in Paris Philosophie zu studieren. Seit Großvaters Diplomatenzeit hatte das Tradition in unserer Familie. Vor allem Mutter war es wichtig, dass ich andere Sprachen nicht nur theoretisch lernte, sondern im Leben selbst, dass ich herauskam, in die Welt, wie sie es ausdrückte. Die Partei sah das nicht gerne. Meine Mutter war nicht zum Gehorsam erzogen worden und deshalb war ihr das egal. Bei jeder Gelegenheit holte sie ihr Kahlschlagargument hervor und erklärte allen, die es hören und die es nicht hören wollten, dass die ganze Region, in der einst, der Donaumonarchie sei Dank, fünf Sprachen zum Alltag eines jeden Vollidioten gehört hatten, schlicht und ergreifend provinziell geworden sei. Vehement vertrat sie ihre Überzeugung, dass jede Politik, die auf den Nationalstaat als das Nonplusultra setzt, absoluter Unsinn sei, zum Scheitern verurteilt. In der Realität sei der Nationalstaat Fiktion unterster Kategorie. Da niemand wusste, wie ihr darauf zu antworten war, schnaufte sie nur zufrieden und genoss triumphierend ein Stück von ihrem Käsekuchen. Mir war Habsburg-Ungarn egal, kannte ich die Monarchie doch bloß aus Geschichtsbüchern.
    In jenem Friedenssommer vor unserer Reise nach Frankreich hatte mein Vater viel an der Universität zu tun

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