Der Richter und sein Henker (German Edition)
erster Hinweis auf den Mörder: Bärlach findet eine Revolverkugel. Seine Begründung dieses Fundes »Das ist nur Zufall« trägt programmatischen Charakter für den weiteren Handlungsverlauf. Der Knoten der Handlung wird weiter geschürzt durch Bärlachs Bitte um die Zuteilung des Detektivs Tschanz als Mitarbeiter und sein offenkundiges Mißtrauen gegenüber Tschanz. Bereits hier erhält der Leser einen Hinweis auf das sich im folgenden weiter zuspitzende Verhältnis der beiden Detektive.
Ebenfalls klar werden schon in der Exposition die Abweichungen des Texts vom orthodoxen Schema des Detektivromans. Vor allem Hans Bärlach entspricht keineswegs dem Modell des Detektivs: a) er erscheint nahezu inkompetent; b) er ist alt und kränklich (erst im 11. Kapitel erfährt man, daß er todkrank ist); c) sein Interesse an der Aufklärung des Mordes ist auffallend gering. Hinzu kommt, daß dem Leser bereits hier die parodistische Anlage des Romans deutlich wird (Bärlachs Gespräch mit Frau Schönler, die Äußerungen von Dr. Lutz etc.). […]
Erste Erzählphase (Kapitel 4–7): Die erste Erzählphase setzt am Abend des zweiten Tags, am Freitag (4. 11. 1948) um sieben Uhr ein. Tschanz und Bärlach fahren nach Lamboing, um dort etwas über die Tätigkeiten Schmieds zu erfahren. Tschanz wählt die ungewöhnliche Route über Kerzers-Erlach; im Gegensatz zu Schmied ist er ein schneller Autofahrer. Er liefert Bärlach den Beweis, daß Schmied am Mittwochabend ebenfalls über Kerzers-Ins gefahren ist. Eine erste Zuspitzung ergibt sich, als beide in der Dunkelheit an der Straße von Twann nach Lamboing warten. Tschanz teilt Bärlach (zum Erstaunen des Lesers) mit, er habe »Respekt« vor dem Mörder Schmieds. Die Spannung verebbt jedoch, ohne daß etwas geschieht. Sie steigt wieder an, wenn Bärlach von dem Bluthund Gastmanns angegriffen wird. Seine Reaktion auf die Gefahr enthält eine Vorausdeutung auf das Kommende, zugleich den Schüssel für die Deutung des Romans: »Er sah nach dem Tier, unerschrocken, aber gebannt. So hatte ihn das Böse immer wieder in seinen Bann gezogen, das große Rätsel, das zu lösen ihn immer wieder aufs neue verlockte.« Tschanz tötet das Tier und rettet dem Kommissär, wie dieser betont, das Leben. Der Kampf bildet den ersten Spannungshöhepunkt des Romans. (Weitere für Bärlach lebensbedrohliche Szenen finden sich im 11. und 16., der Kampf Tschanz’ mit Gastmann im 18. Kapitel. Das Nachspiel, das kultur- und gesellschaftskritische Züge trägt, dient der »Beschwichtigung« des Lesers.
Im 7. Kapitel erreicht die Spannung einen neuerlichen Höhepunkt. Bärlach rekonstruiert den Mordhergang mit Tschanz auf der nächtlichen Straße. Wiederum erhält der Leser einen Hinweis auf die Schuld Tschanz’. Von diesem Zeitpunkt an duzt Bärlach Tschanz; er folgt damit Simenons Kommissar Maigret, der seine Tatverdächtigen beim Verhör grundsätzlich duzt. Bärlachs Verhalten nach seiner Rückkehr bestätigt den Verdacht des Lesers: er hat die Konfrontation mit dem Hund geplant und den rettenden Schuß provoziert, ohne seine eigene Waffe zu gebrauchen.
Erstes Zwischenspiel (Kapitel 8–10): Am Samstag (5. 11. 1948) vollzieht sich das politische Nachspiel um die Tötung von Gastmanns Hund zwischen Dr. Lutz und dem Nationalrat, Oberst und Advokaten Oskar von Schwendi. Hier dominieren Satire und Karikatur. Gegenüber den Interessen des Kapitals ist die Polizei hilflos. Die Aufmerksamkeit des Lesers wird abermals auf Gastmann gelenkt, offensichtlich eine Zentralfigur des Romans, die bislang im Hintergrund blieb. Beim Begräbnis Schmieds kommt es zu grotesken Ausschreitungen, die von Gastmann als Revanche an dem Toten inszeniert wurden. Das Zwischenspiel bereitet den Auftritt Gastmanns vor.
Zweite Erzählphase (Kapitel 11–12): Am gleichen Tag noch erfolgt die Konfrontation Bärlachs mit Gastmann. Die zweite Erzählphase bringt eine handlungstechnische Zuspitzung, darüber hinaus aber für den Sinnzusammenhang des Romans entscheidende Enthüllungen. Für die Deutung des gesamten Textes liefert sie nahezu alle notwendigen Informationen. Obwohl sie die Aufklärung des Mordfalles nicht fördert, sondern im Gegenteil ein retardierendes Element darstellt, muß sie als Kernstück der Romanstruktur gelten. Man sieht, daß der Autor hier bewußt von der herkömmlichen Bauform des Detektivromans abweicht, um seinem Text einen über dessen engen Rahmen hinausweisenden Bedeutungsgehalt zu vermitteln. Er folgt dabei
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