Der Richter und sein Henker (German Edition)
nicht – wobei man doch nur die menschliche Gesellschaft zu betrachten braucht, um die Wahrheit über diesen Punkt zu erfahren –, all dies will ich durchgehen lassen, und sei es auch nur aus Geschäftsprinzip, denn jedes Publikum und jeder Steuerzahler hat ein Anrecht auf seine Helden und sein Happy-End, und dies zu liefern sind wir von der Polizei und ihr von der Schriftstellerei gleicherweise verpflichtet. Nein, ich ärgere mich vielmehr über die Handlung in euren Romanen. Hier wird der Schwindel zu toll und zu unverschämt. Ihr baut eure Handlungen logisch auf; wie bei einem Schachspiel geht es zu, hier der Verbrecher, hier das Opfer, hier der Mitwisser, hier der Nutznießer; es genügt, daß der Detektiv die Regeln kennt und die Partie wiederholt, und schon hat er den Verbrecher gestellt, der Gerechtigkeit zum Siege verholfen. Diese Fiktion macht mich wütend. Der Wirklichkeit ist mit Logik nur zum Teil beizukommen. […] Doch in euren Romanen spielt der Zufall keine Rolle, und wenn etwas nach Zufall aussieht, ist es gleich Schicksal und Fügung gewesen; die Wahrheit wird seit jeher von euch Schriftstellern den dramaturgischen Regeln zum Fräße hingeworfen. Schickt diese Regeln endlich zum Teufel. Ein Geschehen kann schon allein deshalb nicht wie eine Rechnung aufgehen, weil wir nie alle notwendigen Faktoren kennen, sondern nur einige wenige, meistens recht nebensächliche. Auch spielt das Zufällige, Unberechenbare, Inkommensurable eine zu große Rolle.«
Ästhetische Kritik an der Form und gesellschaftliche Kritik an der Chimäre einer logisch durchstrukturierten und programmierbaren Realität gehen hier Hand in Hand. Die Funktion von Literatur liegt für Dürrenmatt darin, daß sie den Leser zur Konfrontation mit einer vieldeutigen Wirklichkeit zwingt, daß sie Denkprozesse ankurbelt, die zu ihrer Bewältigung beitragen können: »Die Dramatik kann den Zuschauer überlisten, sich der Wirklichkeit auszusetzen, aber nicht zwingen, ihr standzuhalten oder sie gar zu bewältigen.« (Punkt 21 der 21 Punkte zu den Physikern )
Dramaturgischer Aufbau und Struktur des Romans
Der Wechsel zwischen akut spannenden Erzählabschnitten einerseits und Handlungselementen, die das Geschehen vertiefen bzw. weiter verwickeln, gehört zu den allgemeinen Voraussetzungen der Gattung des Detektivromans. […] Darüber hinaus jedoch spielt in die Struktur der Detektivromane Dürrenmatts ein klar szenisches Gliederungsprinzip hinein. Der Richter und sein Henker enthält eine dem traditionellen Detektivroman obligate Exposition. Das eigentliche Geschehen wird dann in drei scharf gegeneinander abgehobenen Erzählphasen entwickelt. Jede dieser Phasen enthält eine handlungstechnische Zuspitzung, in der die Spannung einen Höhepunkt erreicht. Unterbrochen wird die Handlungsentfaltung durch zwei Phasen der »Beschwichtigung«, die deutlich an das Zwischenspiel der Dürrenmattschen Komödiendramaturgie angelehnt sind. In diesen Zwischenspielen führt der Autor zusätzliche Aspekte der Handlung ein. Sie geben ihm weiterhin Gelegenheit sowohl zur Gesellschaftskritik als auch zur Vertiefung der den Roman tragenden ethisch-moralischen Dialektik. Vollends der Bühne abgezogen erscheint schließlich der doppelte Schluß des Romans, dem dann noch ein Nachspiel in Form des Schlußkapitels folgt. Hier ergibt sich eine weitere überraschende Wende. […]
Exposition (Kapitel 1–3): Der Roman beginnt, den Formgesetzen der Gattung gemäß, mit einer detaillierten Exposition. Sie umfaßt die drei Eingangskapitel. Als Anfangspunkt der Handlung wird der 3. November 1948 angegeben, der im Roman ein Donnerstag ist. […] Die Handlung umspannt fünf Tage, d. h. die Zeit vom Morgen des 3. bis zum Morgen des 8. November, der im Roman ein Dienstag ist. Gleich eingangs wird das Mordrätsel beschrieben: der Polizeileutnant Schmied wird auf der Straße von Lamboing nach Twann in seinem blauen Mercedes erschossen aufgefunden. Der Polizist Clenin, der die Leiche findet, setzt den Leser durch sein dilettantisches Vorgehen in Erstaunen, wenn er den Wagen samt Schmied nach Biel fährt, ohne die obligate Spurensicherung am Tatort einzuleiten. Auch Kommissär Bärlach, die Zentralfigur des Romans, verblüfft den Leser durch sein Verhalten: nicht nur weigert er sich, dem Untersuchungsrichter Dr. Lucius Lutz seinen »Verdacht« zu nennen, er lobt auch Clenin für dessen ungeschickte Entfernung von Leiche und Wagen. Bei der Besichtigung des Tatorts ergibt sich ein
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