Der Richter und sein Henker (German Edition)
seiner Komödienstruktur, die ebenfalls um den Textmittelpunkt entscheidende Eröffnungen vorsieht.
Der Leser erfährt im einzelnen folgendes: a) Bärlach hat nur noch ein Jahr zu leben. Eine Operation ist unabdingbar. (Das Verdikt wird in Kapitel 15 von seinem Arzt bestätigt.) Im Zeichen seines nahen Todes rücken nunmehr auch retroaktiv die Handlungen Bärlachs in ein neues Licht. Zugleich tritt ein beschleunigendes Element ins Romangeschehen ein: Bärlach befindet sich im Wettlauf mit der Zeit und muß den Mörder fassen, bevor seine Kräfte vollends versagen, b) Gastmann und Bärlach haben vor vierzig Jahren eine Wette abgeschlossen. Bärlachs These war, daß der Zufall jeden Verbrecher zur Strecke bringen muß. Gastmann dagegen vertrat die These, daß die meisten Verbrechen ungesühnt bleiben. Zum Beweis beging er vor Bärlachs Augen einen Mord. Dieser war und blieb in der Folge außerstande, den erfolgreichen Verbrecher zu überführen. Gastmann entfernt jetzt die Mappe mit Beweisen, die Schmied im Auftrag Bärlachs gegen ihn gesammelt hat und fordert den Kommissär auf, das Spiel aufzugeben. Er tötet ihn jedoch nicht, sondern läßt ihn geschlagen zurück. Bärlach erleidet einen schweren Anfall seiner Magenkrankheit. An dieser Stelle wird dem Leser klar, daß Bärlach ein doppeltes Ziel verfolgt: einmal die scheinbar lässig betriebene Überführung von Schmieds Mörder, zum zweiten aber sein Hauptanliegen, die Vernichtung Gastmanns.
Zweites Zwischenspiel (Kapitel 13–15): Am Samstag Nachmittag – inzwischen hat Bärlach Lutz zugesagt, von dem politisch einflußreichen Gastmann abzulassen – fahren der Kommissär und Tschanz zum Schriftsteller: in Schmieds blauem Mercedes, den Tschanz aus dem Nachlaß erworben hat. (Die Forschung hat darauf hingewiesen, daß der Autor in der Gestalt des Schriftstellers ein Selbstporträt geliefert habe, das sogar die Abbildung des Hauses von Dürrenmatts Schwiegermutter in Schernelz einschließt.) Zur Aufklärung des Mordes kann der Schriftsteller nichts beitragen. Sein Gespräch mit Bärlach gibt aber dem Autor die Gelegenheit, die im 11. Kapitel eingeführte Dialektik von Gastmanns Freiheit zum Bösen und dem Gerechtigkeitsbegriff des Kommissärs weiterzuentwickeln. Gastmann wird vom Schriftsteller als »Nihilist« bezeichnet, seine Freiheit als die »Freiheit des Nichts«. Auf der Rückfahrt enthüllt Tschanz seine Eifersucht gegenüber Schmied. Bärlach stellt nun die Weichen für das weitere Geschehen: er hetzt Tschanz auf Gastmann. Durch die Festnahme des Verbrechers wird jener sein detektivisches Können unter Beweis stellen. Der Leser ist durch diese neuerliche Entwicklung verwirrt. Eine abermalige Beschleunigung der Handlung ergibt sich durch das Verdikt Dr. Hungertobels, er müsse Bärlach »innert drei Tagen« operieren. Die Schlußsätze des 15. Kapitels nehmen schon den Romanschluß (Ende des 21. Kapitels) vorweg.
Dritte Erzählphase (Kapitel 16–18): Der nächtliche Kampf Bärlachs mit dem Mörder Schmieds – die dritte lebensbedrohliche Lage, in die der Kommissär gerät – bringt einen neuen Spannungshöhepunkt. Gemäß den Gesetzmäßigkeiten der Gattung entkommt der Eindringling unerkannt (Bärlach schießt gegen jede Logik nicht auf ihn, sondern aus dem Fenster) und hinterläßt nur einen Fingerzeig: er trägt braune Handschuhe. Tschanz, von Bärlach zu sich gerufen, trägt, zum Erstaunen des Lesers, keine braunen Handschuhe. Am nächsten Tag, einem Sonntag (6. 11. 1948), führt dann Gastmann ein neuerliches Gespräch mit Bärlach herbei. Der Fingerzeig entpuppt sich nun als gattungstypisches blindes Motiv: Gastmann, der nach Maßgabe Bärlachs nicht der Mörder Schmieds ist, trägt braune Handschuhe. Er kann aber den nächtlichen Überfall nicht begangen haben, zudem hatte er Bärlachs Leben schon vorher in der Hand und er entläßt ihn auch jetzt wieder, allerdings mit der Drohung, ihn nach der Operation zu töten. Bärlach kündigt Gastmann dagegen an, er werde ihn noch »heute« durch seinen »Henker« töten lassen: für ein Verbrechen, das dieser nicht begangen hat. Hiermit schwenkt die Erzählperspektive in überraschender Weise um: Tschanz verspricht der Verlobten Schmieds, »heute« seinen Mörder zu stellen; sie verspricht ihm dafür ihre Hand. Der Leser ahnt nun, da er den vollen Umfang der Eifersucht Tschanz’ erkannt hat, wer der Mörder Schmieds und der intendierte Henker Gastmanns ist. Tschanz geht wie ein Schlafwandler zum Haus
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