Der Richter
gestrichen gewesen; jetzt waren sie mit wildem Wein und Efeu umrankt, die über die Säulen bis auf das Dach wuchsen. Hohes Gras über-wucherte die Blumenbeete, Sträucher und Wege.
Wie immer, wenn er langsam auf die Auffahrt fuhr und kopfschüttelnd den Zustand des einstmals schönen Hauses zur Kenntnis nahm, trafen ihn auch diesmal die Erinnerungen mit voller Wucht. Und er empfand die immer gleichen Schuldgefühle. Er hätte bleiben, den Wünschen des alten Mannes nachgeben und mit ihm Atlee & Atlee gründen sollen. Er hätte ein Mädchen aus der Stadt heiraten und ein halbes Dutzend Kinder mit ihr haben sollen, die auf Maple Run lebten, um den Richter zu bewundern und ihm seine alten Tage zu versüßen.
Weil er auf sich aufmerksam machen wollte, knallte er die Autotür so laut wie möglich zu, aber Maple Run schien sämtliche Geräusche zu ver-schlucken. Das östliche Nachbarhaus war ebenfalls ein Relikt aus einer vergangenen Zeit und wurde von alten Jungfern bewohnt, deren Familie seit Jahrzehnten im Aussterben begriffen war. Das Gebäude stammte wie Rays Elternhaus aus der Zeit vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg, war aber nicht so mit Kletterpflanzen und Gräsern zugewuchert. Allerdings wurde es von den fünf größten Eichen Clantons völlig verschattet.
Die Stufen und die Veranda vor dem Haus waren kürzlich gefegt worden. Neben der einen Spaltbreit geöffneten Tür lehnte ein Besen an der Wand. Der Richter weigerte sich, das Haus abzuschließen; da er Klimaan-lagen verabscheute, ließ er Türen und Fenster einfach rund um die Uhr offen stehen.
Nachdem Ray tief durchgeatmet hatte, stieß er die Tür so kräftig auf, dass sie geräuschvoll gegen den Anschlag knallte. Er trat ein und rechnete mit strengen Gerüchen -welche es auch diesmal sein mochten. jahrelang hatte sein Vater eine alte Katze besessen, deren schlechte Angewohnheiten sich im Haus bemerkbar machten. Aber mittlerweile war die Katze tot, und es gab keine unangenehmen Gerüche. Die warme Luft roch lediglich etwas staubig und nach Pfeifentabak.
»Jemand zu Hause?«, fragte Ray mit gedämpfter Stimme. Er erhielt keine Antwort.
Wie der Rest des Hauses diente auch die großräumige Diele als Lager für die Kartons mit alten Akten und Papieren, an denen der Richter hing, als wären sie noch wichtig. Sie standen hier, seit man ihn aus dem Gerichtsgebäude vertrieben hatte. Ray spähte in das rechts liegende Esszimmer, wo sich seit vierzig Jahren nichts verändert hatte. Dann trat er um eine Ecke in den Flur, der ebenfalls mit Kartons zugestellt war. Nach ein paar leisen Schritten blickte er in das Arbeitszimmer seines Vaters.
Der Richter lag auf dem Sofa und hielt ein Nickerchen.
Ray zog sich schnell zurück und ging in die Küche, wo keine schmutzigen Teller im Spülbecken standen und die Arbeitsflächen sauber waren.
Gewöhnlich herrschte hier Chaos - heute nicht. Nachdem er im Kühlschrank Diät-Limonade gefunden hatte, setzte er sich an den Küchentisch und überlegte, ob er seinen Vater wecken oder das Unvermeidliche noch hinausschieben sollte. Doch der Richter war krank und brauchte seine Ru-he, und folglich schlürfte Ray seine Limonade und beobachtete, wie sich die Zeiger auf der Uhr über dem Herd langsam auf fünf zu bewegten.
Forrest würde kommen, da war er sich sicher. Das Treffen war zu wichtig, um es einfach platzen zu lassen. Aber Pünktlichkeit war noch nie die Stärke seines Bruders gewesen. Forrest weigerte sich, eine Uhr zu tragen, und gab vor, nie zu wissen, welcher Tag war; die meisten Menschen nahmen ihm das auch ab.
Um Punkt siebzehn Uhr beschloss Ray, dass er jetzt vom Warten die Na-se voll hatte. Wegen dieses Augenblicks hatte er einen langen Weg zurückgelegt, und er wollte nun endlich zur Sache kommen. Er ging ins Arbeitszimmer, wo ihm auffiel, dass sich sein Vater nicht gerührt hatte. Einen langen Augenblick blieb Ray wie erstarrt stehen, weil er den alten Mann nicht wecken wollte, aber zugleich fühlte er sich auch wie ein Eindringling.
Der Richter trug die gleiche schwarze Hose und das gleiche weiße ge-stärkte Hemd, die Ray immer an ihm gesehen hatte. Marineblaue Hosenträ-
ger, keine Krawatte, schwarze Socken, schwarze Hausschlappen. Er hatte offenbar Gewicht verloren; seine Kleidungsstücke waren ihm viel zu weit.
Das Gesicht war ausgezehrt und bleich, das schüttere Haar zurückgekämmt.
Seine Hände waren über dem Unterleib gefaltet und fast so weiß wie sein Hemd.
Neben seinen Händen, an der
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