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Der Ring des Sarazenen

Der Ring des Sarazenen

Titel: Der Ring des Sarazenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Ausschau. In den engen, überfüllten Zellen, die ihr plötzlich noch viel düsterer und erbärmlicher vorkamen als bisher, konnte sie im ersten Moment nichts ausmachen. Wieder drohte sich Panik ihrer Gedanken zu bemächtigen. Was, wenn Nemeth und ihre Mutter gar nicht mehr hier waren? Wenn man sie in einen anderen Kerker gebracht oder Omar am Ende doch noch einen Käufer für sie gefunden hatte?
    Dann aber entdeckte sie sie doch. Nicht in der Zelle, in der sie sie das letzte Mal gesehen hatte, sondern hinter den Gitterstäben auf der anderen Seite des Ganges: Saila starrte sie wie alle anderen Gefangenen aus ungläubig aufgerissenen Augen an. Ihre Tochter hatte sich gegen sie gepresst und das Gesicht an der Brust ihrer Mutter vergraben. Robin war mit zwei Schritten bei der Tür ihres Verlieses, probierte ungeduldig und mit immer heftiger zitternden Fingern die Schlüssel durch, bis sie endlich den richtigen gefunden hatte, und riss die Zellentür auf. Mit einem einzigen Satz war sie bei Saila und ließ sich vor ihr auf die Knie fallen.
    »Nemeth!«
    Das Mädchen sah nur kurz in ihre Richtung, fuhr entsetzt zusammen und presste sich noch heftiger an seine Mutter und auch Saila wich ein kleines Stück vor ihr zurück und begann zu zittern.
    »Nemeth, ich…« Und endlich begriff Robin. Hastig streifte sie sich die Abeiya von den Schultern und riss sich den Schleier vom Gesicht. Sailas Augen weiteten sich ungläubig und auch Nemeth drehte den Kopf. Ein Ausdruck vollkommener Fassungslosigkeit erschien in ihrem Blick.
    »Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich hier heraushole«, sagte Robin. »Siehst du, ich halte mein Versprechen. Aber jetzt komm. Wir haben keine Zeit!«
    Sie sah flüchtig zur Treppe hin. Die Gefangenen hatten nicht viel Lärm gemacht, als sie den Wächter überwältigten, aber oben im Haus war es so still, dass der Tumult durchaus hätte gehört werden können. An der Treppe blieb alles ruhig. Wie es schien, war das Glück ausnahmsweise einmal auf ihrer Seite. Dennoch war keine Zeit zu verlieren.
    »Komm schon!«, sagte Robin ungeduldig. »Wir müssen weg! Sie werden sicher bald merken, dass ich nicht mehr in meinem Zimmer bin!« Als Nemeth immer noch keine Anstalten machte, sich zu bewegen, griff sie ungeduldig nach ihrer Schulter und rüttelte daran, aber das Mädchen klammerte sich umso fester an die Brust seiner Mutter.
    »Also gut«, seufzte Robin. »Dann kommst du eben auch mit.«
    Saila hatte die Worte zweifellos verstanden - und blickte Robin noch immer mit einem Ausdruck völliger Fassungslosigkeit an auch sie rührte sich nicht.
    »Worauf wartet ihr?«, fragte Robin fast verzweifelt. »Wir haben nicht viel Zeit!«
    »Fliehen?«, murmelte Saila. »Aber… aber wohin denn?«

»Du kannst auch gerne bleiben und versuchen, Omar das da zu erklären«, knurrte Robin mit einer zornigen Geste auf den toten Krieger. »Aber dann gib mir deine Tochter mit, damit er seinen Zorn nicht auch noch an ihr auslässt!«
    »Ich… ich gehe nicht ohne die anderen«, murmelte Saila. Robin riss ungläubig die Augen auf. »Was?«
    »Die anderen«, antwortete Saila. »Das sind… meine Brüder und Schwestern, meine Familie. Ich gehe nicht ohne sie.«
    Robin war nicht ganz sicher, ob sie laut auflachen oder Saila einfach ins Gesicht schlagen sollte. Das konnte nur ein Scherz sein. »Aber wir können doch nicht…«
    »Wir gehen alle, oder wir bleiben alle«, beharrte Saila.
    Robin starrte sie an. Die Araberin und ihre Tochter waren allein in der kleinen Zelle. Robin zweifelte nicht daran, dass sie Saila nötigenfalls mit Gewalt zwingen konnte, ihr zu folgen. Aber hatte sie das Recht dazu? Sie musste plötzlich an die beiden Vögel denken, die ihren Käfig nicht hatten verlassen wollen, obwohl die Tür weit offen stand, und an den Schrei des Falken. Vielleicht hatte sie an diesem Tag schon zu viel auf ihr Gewissen geladen, um einen weiteren Vogel dazu zu zwingen, seine Flügel zu entfalten.
    »Also gut«, sagte sie. »Das macht alles viel schwerer, aber vielleicht soll es so sein.« Sie stand auf, verließ die Zelle und öffnete nacheinander die Türen der übrigen Gitterverschläge. Etliche Gefangene stürmten an ihr vorbei und ein paar Schritte weit auf den Gang hinaus, die meisten aber blieben einfach stehen oder sitzen, wo sie waren, und sahen sie verwirrt und ungläubig an. Möglicherweise waren Menschen, die bereits mit dem Leben abgeschlossen hatten, nicht so ohne weiteres in der Lage zu begreifen, dass sich

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