Der Ring des Sarazenen
abgewandten Seite zu, um sich das Dorf eingehend anzusehen.
Sie hatte bisher angenommen, sich in einem Zeltlager zu befinden, am Rande eines Dorfes. Doch das war ein Irrtum. Vielleicht lag es daran, dass Salim ihr so viel von den Zeltlagern - den wandernden Städten der Beduinen - erzählt hatte. Tatsächlich gab es hier nur eine Hand voll Zelte. Sie standen vereinzelt hinter den wenigen Häusern, die auf einem steinigen Abhang dicht am Meer gebaut waren. Die Häuser hatten flache Dächer und waren aus hellem Stein gebaut, der so verwittert wirkte, als hätten diese Fischerhütten schon ungezählte Jahrhunderte vorüberziehen sehen. Unten am Strand lag ein großes, bunt gestrichenes Boot, das halb mit einem schmutzigen Segeltuch zugedeckt war. Selbst auf die Entfernung konnte Robin ein großes
Auge erkennen, das vorne auf den Bug des Bootes gemalt war und es wie ein gestrandetes Seeungeheuer aussehen ließ.
Wenn sie sich nach Westen drehte, blickte sie jenseits des Hügelkamms in die grauen Rücken mächtiger Berge. Das verwirrte sie auf äußerste, denn mit dem Bild, das Salim mit seinen blumenreichen Erzählungen von diesen Gefilden gemalt hatte, hatte das alles erschreckend wenig zu tun. Er hatte von paradiesischen Gärten an Oasen und Flussläufen geschwärmt und von glutheißen Wüsten erzählt, die den größten Teil des Landes ausmachten. Hier gab es weder Wüsten noch Gärten.
Hinter Robin wurde eine aufgeregte Stimme laut. Sie wandte sich um und sah denselben Mann wie vorhin auf sich zukommen, auch jetzt aufgeregt mit den Armen fuchtelnd und augenscheinlich noch wütender als zuvor. Robin streckte kampflustig das Kinn vor und setzte einen möglichst grimmigen Gesichtsausdruck auf, ehe ihr klar wurde, dass der Araber ihr Gesicht hinter dem Schleier gar nicht erkennen konnte.
Sie musste sich auch nicht selbst verteidigen. Saila trat dem Bärtigen mit einem entschlossenen Schritt entgegen. Sie brachte ihn nicht zum Schweigen, doch lenkte sie seinen Zorn, der eigentlich Robin galt, auf sich, was Robins schlechtes Gewissen weckte, sie zugleich aber auch alarmierte. Niemand konnte unter dem lose fallenden Gewand sehen, dass sie unwillkürlich ihre Muskeln anspannte. Sie wusste nicht, wie weit der Bärtige gehen würde, aber sie würde nicht zulassen, dass er Saila ihretwegen schlug.
Wie sich zeigte, war ihre Sorge unbegründet. Saila und der Bärtige stritten eine geraume Weile, aber schließlich gab der Araber nach und drehte sich mit einer wütenden Bewegung um.
»Danke«, sagte Robin, als Saila zu ihr zurückkehrte. »Ich hoffe nur, du bekommst meinetwegen keinen Ärger.«
Die junge Frau nickte, so als hätte sie die Worte verstanden, und machte eine verstohlene, aber eindeutig wegwerfende Geste. Einige Dinge waren offenbar überall auf der Welt gleich. Sie überzeugte sich mit einem langen Blick, der keinerlei Erklärung bedurfte, davon, dass der Bärtige auch tatsächlich ging, dann erst gab sie Robin mit einem weiteren Nicken zu verstehen, dass sie ihren Weg fortsetzen konnten.
Schon nach wenigen Schritten war Robin gar nicht mehr so sicher, ob es wirklich klug gewesen war, auf diesem Ausflug zu bestehen. Wieder spürte sie, wie schwach sie war, und die Übelkeit und der Schwindel, mit denen sie aufgewacht war, kehrten zurück. Einen Moment lang hatte sie sogar das Gefühl, ihre Beine würden jeden Augenblick unter ihr wegknicken. Wäre sie nicht zu stolz gewesen, ihren Fehler vor Saila einzugestehen, hätte sie schon nach dem ersten Dutzend Schritte kehrtgemacht, um ins Zelt zurückzugehen. So aber biss sie die Zähne zusammen und folgte ihrer neuen Freundin, die vorausging, um ihr den Ort zu zeigen.
Viel gab es ohnehin nicht zu sehen. Das Dorf - wenn es diesen Namen überhaupt verdiente - bestand aus vielleicht zwanzig Steinhäusern und es konnte kaum mehr als hundert Einwohner zählen. Robin sah erstaunlich wenig Tiere. Ein magerer Hund beäugte sie aus sicherer Entfernung. Mit eingezogenem Schwanz schien er nur darauf zu warten, dass sie ihm mit einer unbedachten Bewegung einen Grund gab, die Flucht zu ergreifen. Ein junges Zicklein wurde von einem halbwüchsigen Mädchen gehütet und zupfte missmutig an verdorrtem Dünengras.
Es gab keine Pferde und erst recht keine Wagen. Auch Felder konnte sie weder in Strandnähe noch auf den steinigen Hängen landeinwärts entdecken. Doch vielleicht lagen Salims paradiesische Gärten ja auf der anderen Seite des Hügels, abgewandt vom rauen Seewind.
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