Der Ring des Sarazenen
»Menschen tun einander manchmal schlimme Dinge an, weißt du? Das hier war eines von diesen schlimmen Dingen. Ich hoffe für dich, dass dir so etwas nie zustößt.«
Natürlich begriff Nemeth die Erklärung nicht, aber sie verstand sehr wohl Robins versöhnlichen Ton, denn sie lächelte plötzlich schüchtern und kam wieder näher. Robin erwiderte ihr Lächeln, wandte sich noch einmal mit einem entsprechenden Blick an Saila und sah schließlich auf das Kleid herab, das neben ihr lag. In dem schwachen Licht hier drinnen konnte sie nicht sagen, ob es schwarz oder dunkelblau war. Der Stoff fühlte sich weicher und angenehmer an, als sie erwartet hatte. Ärmel und Saum des Kleides waren mit dünnen, vom Tragen zerfaserten Schmuckborten besetzt. Das Kleid war weitaus prächtiger als die Gewänder der beiden Frauen, und Robin hatte das unbestimmte Gefühl, dass Saila ihr das eigene Festtagsgewand auslieh.
Die beiden Frauen sahen diskret zu Boden, als Robin die Decke ganz abstreifte und aufstand, um sich das Kleid überzuziehen. Nur Nemeth maß sie mit unverhohlener Neugier und sagte etwas, das ihre Mutter zu einem weiteren scharfen Verweis veranlasste. Nemeth verstummte, doch wirkte sie nicht sonderlich eingeschüchtert. Robin musste ein Lächeln unterdrücken. Anscheinend waren Kinder in einem gewissen Alter überall gleich; ganz egal bei welchem Volk und wo auch immer auf der Welt.
Nachdem sie fertig angezogen war, räusperte sie sich. Saila sah zu ihr hoch und maß sie mit einem langen, kritischen Blick. Schließlich schien sie mit dem Sitz des Kleides durchaus zufrieden zu sein, denn sie nickte lächelnd und deutete nun endlich auf die Schale mit dem verführerischen Essen. Das ließ sich Robin nicht zweimal sagen. Ihr Magen hatte wiederholt hörbar geknurrt, während sich die beiden Frauen um ihre Verletzungen gekümmert hatten.
Die ersten Bissen schlang sie geradezu hinunter, und auch wenn es nur einfaches Fladenbrot und gesalzener Fisch war, so schien es ihr in diesem Moment doch das Köstlichste zu sein, was sie jemals gegessen hatte. Wahrscheinlich hätte sie alles binnen weniger Augenblicke heruntergeschlungen, hätte ihr Saila nicht schließlich die Hand auf den Unterarm gelegt und ihr mit einem milden Lächeln bedeutet, langsamer zu essen. Robin gehorchte, auch wenn es ihr schwer fiel. Gewiss hatte die Araberin Recht: Ihr würde nur übel werden, wenn sie weiter das Essen so in sich hineinstopfte, und dann würde sie am Ende die ganzen Köstlichkeiten wieder von sich geben. Flüchtig dachte sie an die Schiffsreise. Nein, sie würde vorsichtig sein!
Dennoch dauerte es nicht lange, bis sie die Schale bis auf ein paar Krümel Brot und ein kleines Stückchen Fisch geleert hatte. Als sie aufsah, bemerkte sie Nemeth, die wieder näher gekommen war. Diesmal galt ihre Aufmerksamkeit nicht ihr, sondern der Schale. Sie gab sich alle Mühe, sich nichts anmerken zu lassen, aber Robin sah sehr deutlich, dass ihr buchstäblich das Wasser im Mund zusammenlief.
Sie hatte immer noch Hunger, doch statt auch noch das letzte Stück Fisch zu verzehren, schob sie mit einer auffordernden Geste Nemeth die Schale hin. Das Mädchen wollte schon danach greifen, doch Saila hielt es mit einem scharfen Befehl zurück.
»Lass nur«, sagte Robin. »Sie hat Hunger, und ich kann ja später noch etwas essen. Wahrscheinlich wird mir sowieso nur schlecht, wenn ich jetzt zu viel esse.« Abermals forderte sie Nemeth mit einer Geste auf. »Nimm ruhig.«
Das Mädchen warf noch einen fragenden Blick in Richtung seiner Mutter, dann griff es schnell nach dem Stück Fisch, drehte sich auf dem Absatz um und rannte aus dem Zelt; dabei presste es seine Beute wie einen Schatz an die Brust. Robin sah kopfschüttelnd hinterher und wandte sich dann wieder an Saila.
»Sei ihr nicht böse«, sagte sie. »Kinder haben doch immer Hunger, oder?« Sie atmete hörbar ein. »Ich weiß, ihr könnt mich nicht verstehen, aber ich möchte euch trotzdem sagen, wie dankbar ich euch bin. Ihr habt mir das Leben gerettet. Und nicht nur, weil ihr mich aus dem Wasser gezogen habt.«
Sailas Antwort bestand aus einem fragenden Hochziehen der Augenbrauen, womit Robin gerechnet hatte, aber sie schien zumindest ihren Tonfall richtig zu deuten, denn ein warmer Ausdruck trat in ihre Augen. Zugleich meinte Robin auch so etwas wie Mitleid zu spüren und sie fragte sich, ob es noch einen anderen Grund als ihre Verletzungen dafür geben mochte. Beurteilte sie ihre eigene Situation
Weitere Kostenlose Bücher