Der Riss im Raum
kommt.«
»Und Vater?«
»L.A. hat angerufen, und daraufhin mußte Vater für ein paar Tage nach Washington.«
Daß er so oft ins Weiße Haus gerufen wurde, blieb in der Schule am besten ebenso unerwähnt wie die Drachen im Garten. Der einzige Unterschied war, daß Vaters Dienstreisen nicht auf reiner Einbildung beruhten.
Charles Wallace spürte Megs Zweifel. »Wenn ich die Drachen aber doch gesehen habe!« beharrte er. »Sobald du gegessen hast, kannst du dich selbst davon überzeugen.«
»Wo sind Sandy und Dennys?«
»Beim Fußballtraining. Außer dir habe ich noch keinem etwas erzählt.« Auf einmal wirkte er hilflos wie ein kleines Kind: »Warum kommt dein Schulbus erst so spät? Ich habe endlos auf dich gewartet.«
Meg holte nun doch den Salat aus dem Kühlschrank. Genaugenommen wollte sie nur Zeit zum Überlegen gewinnen – obwohl Charles Wallace ihre Gedanken jetzt ebenso erriet wie zuvor ihre Zweifel an der Existenz der Drachen.
Was hatte er da draußen bloß gesehen? Äußerst ungewöhnlich mußte es jedenfalls gewesen sein, soviel stand fest.
Charles Wallace sah schweigend zu, wie sie die Brote strich, beide Scheiben exakt Kante an Kante aufeinanderlegte und sie in genau gleiche Streifen schnitt. »Ich frage mich, ob Herr Jenkins jemals Drachen sehen könnte.«
Jenkins war der Leiter der Dorfschule, und Meg hatte ihre liebe Not mit ihm. Von Jenkins war kaum zu erwarten, daß ihn die Leiden von Charles Wallace kümmerten, oder daß er bereit war, in eine Entwicklung einzugreifen, die seiner Meinung nach nur »ein gesunder demokratischer Prozeß« war.
»Jenkins glaubt an das Gesetz des Dschungels«, sagte sie mit vollem Mund. »Gibt es eigentlich im Dschungel Drachen?«
Charles Wallace trank seine Milch aus. »Kein Wunder, daß du in Naturkunde so schwach bist! Jetzt iß endlich und hör auf herumzutrödeln. Wir wollen doch nachsehen, ob die Drachen noch da sind.«
Sie gingen über die Wiese. Fortinbras, der große, schwarze Hund, kam mit und schnüffelte und scharrte genüßlich an den herbstlichen Überresten im Rhabarberbeet herum. Meg stolperte über ein Krocket-Tor und schnaubte ärgerlich, denn sie selbst hatte nach dem letzten Match die Schläger und Tore weggeräumt und dieses eine offenbar übersehen.
Eine Reihe Berberitzen trennte den Krocket-Rasen vom Gemüsegarten der Zwillinge, Sandy und Dennys.
Fortinbras sprang über die Hecke. Meg rief automatisch: »Nicht in den Garten, Fort!« und der große Hund trat zwischen Kohlköpfen und Broccoli vorsichtig den Rückzug an. Die Zwillinge waren mit Recht stolz auf ihr Grünzeug, das sie im Dorf verkauften, um sich ihr Taschengeld aufzubessern.
»Ein Drachen könnte hier gewaltigen Schaden anrichten«, stellte Charles Wallace fest und ging Meg zwischen den Gemüsebeeten voran. »Ich glaube, das wurde ihm auch bewußt, denn auf einmal war er irgendwie fort.«
»Was heißt, er war irgendwie fort? Entweder war er da, oder er war nicht da.«
»Er war da; aber als ich näher kam, verschwand er. Also ging ich ihm nach – vielmehr: ich folgte ihm dorthin, wo er sich verzogen hatte, zu den beiden Felsen auf der oberen Wiese.«
Meg blickte sich mißtrauisch im Garten um. Noch nie hatte Charles Wallace derart Unglaubliches behauptet.
»Komm!« forderte er sie auf und zwängte sich an den Maisstauden vorbei, die schon ziemlich zerrupft dastanden. Dahinter reckten die Sonnenblumen ihre braungoldenen Blütenkränze der tiefstehenden Nachmittagssonne entgegen.
»Charles, ist etwas mit dir nicht in Ordnung?« fragte Meg. Daß er die seltsamsten Dinge erkennen konnte, wußte sie; aber noch nie hatte er die Grenzen zwischen Wirklichkeit und reiner Einbildung verkannt. Auch bemerkte sie erst jetzt, wie schwer und stoßweise er atmete, als sei er gelaufen – dabei waren sie doch eher geschlendert. Sein Gesicht wirkte blaß, auf seiner Stirn standen Schweißtropfen, wie nach übermäßiger Anstrengung. Sein Aussehen gefiel ihr gar nicht. Aber zunächst war diese seltsame Geschichte zu klären.
»Charles, wann hast du die vermeintlichen Drachen gesehen?«
»Es war eine ganze Herde. Oder sagt man: eine Schar? Ein Rudel?« Er keuchte heftig. »Als ich von der Schule kam. Mutter war einigermaßen nervös, weil ich so ramponiert aussah. Außerdem blutete ich stark aus der Nase.«
»Mich machst du auch einigermaßen nervös.«
»Ja, Meg, aber Mutter geht es dabei nicht nur um die Großen, die mich verdreschen.«
»Sondern?«
Charles Wallace hatte
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