Der Riss im Raum
aneinander, als wollten sie schlafen gehen. Da habe ich mich zurückgezogen und im Haus auf dich gewartet. – Meg, du glaubst mir noch immer nicht.«
Sie fragte rundheraus: »Kannst du mir die Drachen zeigen? Wo sind sie?«
»Du hast mir von allem Anfang an nicht geglaubt.«
Meg wählte ihre Worte mit Bedacht. »Wer sagt, daß ich dir nicht glaube?« Irgendwie, so seltsam das auch sein mochte, mußte ja an der Sache etwas Wahres sein. Zwar hatte Charles Wallace bestimmt keine Drachen gesehen, aber trotzdem blieb zu bedenken, daß er sonst nie Realität und Phantasie derart durcheinanderbrachte …
Er trug jetzt ein Sweatshirt über seinem schmutzigen Hemd. Meg tat so, als sei ihr plötzlich kalt. Bibbernd kreuzte sie die Arme vor der Brust und sagte: »Ich laufe schnell ins Haus und hole eine Jacke. Bleib einstweilen hier; ich bin gleich wieder da. Und falls inzwischen die Drachen wiederkommen … «
»Sie kommen bestimmt!«
»… dann halte sie auf, bis ich zurück bin. Ich werde mich beeilen.«
Charles Wallace blickte sie offen an. »Ich glaube nicht, daß Mutter bei ihrer Arbeit gestört werden möchte.«
»Ich habe nicht die Absicht, sie zu stören. Ich hole mir bloß eine Jacke.«
»Na schön, Meg«, sagte er und seufzte.
Sie ließ ihn auf der Mauer sitzen, auf die beiden Felsen starren und auf die Drachen – oder sonstigen Geschöpfe – warten, die er angeblich gesehen hatte. Es war ihm also nicht entgangen, daß sie nur zum Haus zurückwollte, um mit Mutter zu sprechen. Auch gut. Solange sie nicht ausdrücklich zugeben mußte, daß sie sich um Charles Sorgen machte, merkte er vielleicht nichts davon; zumindest konnte sie sich das einreden.
Meg platzte ins Labor.
Ihre Mutter saß auf einem hohen Hocker vor dem Mikro-Elektronenmikroskop, blickte aber weder durchs Okular, noch trug sie in die Schreibkladde, die auf ihren Knien lag, Beobachtungen ein. Sie saß einfach da und dachte angestrengt nach.
»Was willst du, Meg?«
In aller Eile berichtete sie, was Charles Wallace ihr aufgetischt hatte, obwohl er sich doch sonst nie kindischen Illusionen hingab. Sie gestand auch, sich wie eine Verräterin zu fühlen, weil sie etwas preisgab, das Charles selbst Mutter noch nicht erzählt hatte; andererseits konnte das auch an Dr. Louises Anwesenheit gelegen haben …
»Was willst du, Meg?« wiederholte Frau Murry etwas ungeduldig.
»Ich will wissen, was mit Charles Wallace los ist.«
Megs Mutter legte den Schreibblock neben das Mikroskop auf den Tisch. »Charles hatte heute wieder einmal Krach mit seinen Mitschülern.«
»Aber das meine ich doch nicht!«
»Was meinst du denn, Meg?«
»Er sagt, du hättest seinetwegen Dr. Colubra gerufen.«
»Louise kam zum Mittagessen. Da bot sich die Gelegenheit geradezu an, ihn ein wenig zu untersuchen.«
»Und?«
»Und – was, Meg?«
»Was fehlt ihm?«
»Das wissen wir nicht, Meg. Zumindest: noch nicht.«
»Charles sagt, du machst dir große Sorgen um ihn.«
»Stimmt. Du doch auch?«
»Ja. Aber ich dachte bis jetzt, das sei alles nur darauf zurückzuführen, daß er sich in der Schule so schwer einlebt. Jetzt glaube ich das nicht mehr. Schon wenn er durch den Obstgarten geht, kommt er in Atemnot. Und er ist blaß. Und er phantasiert. Mir gefällt gar nicht, wie er aussieht.«
»Mir gefällt es auch nicht, Meg.«
»Was hat er? Was fehlt ihm? Ist es ein Virus?«
Frau Murry zögerte. »Das kann ich nicht mit Sicherheit behaupten.«
»Mutter, bitte! Ich bin doch kein kleines Kind mehr. Du kannst mir offen sagen, ob Charles ernsthaft krank ist.«
»Ich weiß nicht, ob er das ist. Auch Louise weiß es nicht. Aber ich verspreche dir, dich zu informieren, sobald wir Genaueres herausbekommen haben.«
»Du verheimlichst mir doch nichts?«
»Meg, es hat keinen Sinn, über Dinge zu sprechen, die mir selbst noch nicht klar sind. In ein paar Tagen weiß ich wahrscheinlich mehr.«
Meg preßte nervös die Handflächen aneinander. »Du machst dir schreckliche Sorgen.«
Frau Murry lächelte. »Das haben Mütter so an sich. – Wo ist Charles jetzt?«
»Er wartet bei der Mauer auf mich. Ich tat so, als wollte ich mir bloß eine Jacke holen. Darum muß ich auch gleich wieder zu ihm, sonst glaubt er womöglich noch … «
Ohne den Satz zu beenden, verließ Meg das Labor, raffte im Flur eine Jacke vom Garderobenhaken und rannte über den Rasen.
So, wie sie ihn verlassen hatte, saß Charles Wallace noch immer auf der Mauer. Weit und breit waren keine Drachen zu
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