Der Riss im Raum
betrachtete ihn voll Trauer und Zuneigung. »Ach, Charles, wenn ich das nur wüßte!« sagte sie und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich bin deine Schwester, ich kenne dich seit deiner Geburt; also stehe ich dir zu nahe, um darüber urteilen zu können.«
Sie nahm auf der Mauerbrüstung Platz, doch erst, nachdem sie sich vergewissert hatte, daß die Schlange nicht da war, die hier hauste: ein großes, schwarzes und völlig harmloses Tier. Es war ein besonderer Liebling der Zwillinge, aber alle vier hatten sie beobachtet, wie allmählich aus einem kleinen Würmchen dieses Prachtexemplar geworden war. Sie hatten sie Louise getauft – nach Dr. Louise Colubra, denn soviel Latein kannten sie immerhin, um zu wissen, was dieser ungewöhnliche Familienname bedeutete.
»Doktor Schlangenweib!« hatte Dennys gesagt. »Geradezu unheimlich.«
»Es ist ein hübscher Name«, hatte Sandy widersprochen. »Wir sollten unsere Schlange nach ihr benennen: Louise die Große.«
»Warum »die Große«?«
»Warum nicht?«
»So groß ist sie auch wieder nicht.«
»Doch.«
»Jedenfalls nicht größer als Dr. Louise.«
Dennys war gekränkt. »Für eine Schlange, die in einer Gartenmauer wohnt, ist Louise die Große ungewöhnlich groß. Hingegen ist Dr. Louise eine eher kleine Ärztin – natürlich nur, was ihre Statur betrifft. Als medizinische Kapazität ist sie das reinste Mammut.«
»Doktoren gibt es eben in allen Größen. Aber du hast recht, Dr. Louise ist wirklich ein zartes Persönchen, und unsere Schlange ist vergleichsweise ein Riese.« Die Zwillinge stritten nie lang.
»Andererseits: Unsere Frau Doktor gleicht eher einem Vogel als einer Schlange.«
»Entstammen denn die Schlangen und Vögel in der Entwicklungsgeschichte nicht ohnedies dem gleichen Phylum – oder wie du das immer nennst? Ach was, jedenfalls ist Louise ein guter Name für eine Schlange.«
Zum Glück nahm Dr. Louise die Sache mit Humor. Sie sagte den Zwillingen, Schlangen seien zu Unrecht verabscheute Geschöpfe; sie fühle sich sogar höchst geehrt, Namenspatronin eines so sympathischen Wesens zu sein. Zudem gelte der schlangenumwundene Äskulapstab bis heute als Standeszeichen der Ärzte; der Name sei also sehr passend gewählt.
Louise die Große war seit ihrer Taufe beträchtlich gewachsen, und obwohl sich Meg nicht gerade vor ihr fürchtete, hielt sie doch jedesmal nach ihr Ausschau, ehe sie sich auf die Mauer setzte. Im Augenblick ließ Louise sich nicht blicken; also konnte Meg ihre Aufmerksamkeit unbesorgt wieder Charles Wallace zuwenden.
»Du bist viel gescheiter als die Zwillinge«, sagte sie, »und die beiden sind selbst nicht eben dumm. Woran liegt es also, daß sie, anders als du, problemlos mit allen Leuten auskommen?«
»Tja, wenn sie mir das bloß verraten würden!« klagte Charles.
»Vor allem sprechen sie in der Schule nicht so wie daheim.«
»Ich dachte doch nur, wenn ich mich für Mitochondrien und Farandolae interessiere, könnten andere ebenso daran interessiert sein.«
»Da täuschst du dich aber sehr.«
»Ich interessiere mich wirklich für sie. Ist das denn so ungewöhnlich?«
»Für den Sohn eines Physikers und einer Biologin nicht unbedingt.«
»Aber keiner teilt dieses Interesse mit mir.«
»Es hat eben auch keiner zwei Wissenschaftler als Eltern. Für uns wirkt sich das ohnehin eher nachteilig aus. Ich zum Beispiel werde nie so hübsch werden wie Mutter.«
Charles hatte keine Lust, Meg einmal mehr zu trösten. Er blieb bei seinem Thema. »Das Faszinierende an den Farandolae ist ihre geringe Größe.«
Meg dachte daran, daß ihr Haar so unauffällig braun war wie das einer gewöhnlichen Feldmaus, und sie verglich es insgeheim mit der brünetten Lockenpracht ihrer Mutter … »Was hast du gesagt?«
»Farandolae sind so klein, daß sich ihre Existenz nur vermuten läßt. Nicht einmal das leistungsfähigste Mikro-Elektronenmikroskop kann sie sichtbar machen. Dabei sind sie ungeheuer wichtig für uns – ohne Farandolae müßten wir sterben. Und trotzdem interessiert sich in meiner Schule keiner auch nur im geringsten für sie. Unsere Lehrerin hat bestenfalls den Verstand einer Heuschrecke. Ja, du hast schon recht, es ist nicht immer angenehm, das Kind berühmter Eltern zu sein.«
»Vor allem, wenn man mitten auf dem Land lebt. Wetten, daß jeder im Dorf weiß, wie oft Vater ins Weiße Haus geholt wird? Unsere ganze Familie fällt aus dem Rahmen. Nur die Zwillinge kommen damit zurecht. Vielleicht, weil sie
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