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Der Riss im Raum

Der Riss im Raum

Titel: Der Riss im Raum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine L'Engle
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mitgerissen wurde.
    Die Glocke schrillte die erste Stunde ein. Wieder klickte die Sekretärin über den Flur. Wahrscheinlich brachte sie Herrn Jenkins jetzt den Kaffee. Die Schritte verhallten.
    Meg wartete schätzungsweise fünf Minuten und verließ dann ihr Versteck. Sie preßte die Fingerspitze an die Oberlippe, um das Kitzeln in der Nase zu unterdrücken, überquerte den Flur, klopfte – und mußte dummerweise nun doch niesen.
    Jenkins war von Megs Anblick überrascht – was ja durchaus in ihrer Absicht gelegen hatte – und nicht gerade erfreut, obwohl er sagte: »Darf ich fragen, welchem Umstand ich dieses Vergnügen verdanke?«
    »Bitte, Herr Jenkins, ich muß ganz dringend mit Ihnen sprechen!«
    »Warum bist du nicht in der Schule?«
    »Bin ich doch. Oder ist das etwa keine Schule?«
    »Ich darf dich bitten, nicht gleich frech zu werden! Ich sehe schon, daß du dich während des Sommers nicht im geringsten verändert hast. Und ich hatte erwartet, mich nicht länger mit deinesgleichen herumschlagen zu müssen. Weiß man eigentlich über deinen gegenwärtigen Aufenthalt Bescheid?« Die Morgensonne spiegelte sich in seinen Brillengläsern und verbarg seine Augen. Meg schob ihre eigene Brille zurecht, die – wie fast immer – verrutscht war, und versuchte vergeblich, in seinem Gesicht zu lesen. Wie üblich sah Jenkins bloß drein, als wittere er Verrat.
    Er rümpfte die Nase. »Ich werde meine Sekretärin bitten, dich mit dem Wagen zu deiner Schule zu bringen. Das bedeutet, daß ich für einen guten halben Tag auf sie verzichten muß.«
    »Vielen Dank, ich komme auch per Autostop hin.«
    »Um eine Fehlleistung durch eine andere zu übertrumpfen? Hierzulande ist das Anhalten fremder Fahrzeuge von Gesetzes wegen untersagt!«
    »Herr Jenkins, ich bin nicht gekommen, um mich mit Ihnen über meinen Schulweg zu unterhalten, sondern um über Charles Wallace zu sprechen.«
    »Deine Einmischung in unsere internen Angelegenheiten behagt mir keineswegs, Margaret!«
    »Die größeren Jungen bedrohen ihn. Wenn Sie nicht endlich dagegen einschreiten, gibt es noch ein Unglück.«
    »Ich würde annehmen, daß eher deine Eltern dazu berufen wären, eine Aussprache mit mir zu suchen, sofern sie an meinem Vorgehen Kritik zu üben wünschen.«
    Meg bemühte sich, ruhig zu bleiben, aber mit zunehmender Wut wurde auch ihre Stimme lauter. »Wahrscheinlich sind meine Eltern gescheiter als ich und wissen, daß dabei nichts herauskommen würde. Ach, bitte, bitte, tun Sie doch etwas, Herr Jenkins! Die Leute glauben zwar, Charles Wallace sei keine große Leuchte, aber in Wirklichkeit … «
    Er fiel ihr ins Wort. »Wir haben alle neu Eingeschulten einem Intelligenztest unterworfen. Dein Bruder schnitt mit durchaus zufriedenstellenden Werten ab.«
    »Sie wissen, daß das eine Untertreibung ist, Herr Jenkins! Auch meine Eltern haben Charles getestet, immer und immer wieder. Sein IQ ist so hoch, daß er sich auf herkömmliche Weise nicht mehr messen läßt.«
    »Aus dem Allgemeinverhalten deines Bruders könnte man allerdings kaum darauf schließen.«
    »Ja, begreifen Sie denn nicht, daß Charles sich nur zurückhält, damit die großen Jungen ihn in Ruhe lassen? Sie kommen mit ihm nicht zurecht, und er nicht mit ihnen. Welcher andere Sechsjährige weiß denn schon über Farandolae Bescheid?«
    »Ich verstehe nicht, wovon du sprichst, Margaret. Daß Charles Wallace nicht eben besonders kräftig wirkt, ist mir bekannt.«
    »Er ist ganz in Ordnung.«
    »Er ist außerordentlich blaß, und unter seinen Augen zeigen sich dunkle Ringe.«
    »Wie würden denn Sie aussehen, wenn jeder Sie nach Belieben auf die Nase dreschen oder Ihnen ein blaues Auge verpassen dürfte?«
    »Somit frage ich mich bloß eines«, sagte Herr Jenkins und starrte sie eisig aus Eulenaugen an, die von den Linsen seiner Brille unheimlich vergrößert wurden. »Wenn dein Bruder tatsächlich ein solches Genie ist – warum schicken ihn deine Eltern eigentlich überhaupt zur Schule?«
    »Weil das Gesetz sie dazu zwingt. Sonst ließen sie es bestimmt bleiben.«
    Nun stand Meg neben Charles Wallace auf der Mauer, blickte mit ihm zu den beiden Felsen hinüber, hinter denen keine Drachen lauerten, und als sie sich an die Bemerkung erinnerte, die Herr Jenkins über Charles und seine Blässe gemacht hatte, bekam sie erneut Herzklopfen.
    »Warum mißtrauen die Menschen jedem, der aus der Reihe tanzt?« fragte Charles. »Bin ich denn wirklich so anders als die anderen?«
    Meg

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