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Der Riss im Raum

Der Riss im Raum

Titel: Der Riss im Raum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine L'Engle
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sehen. Das hatte sie auch nicht ernsthaft erwartet. Dennoch war sie ein wenig enttäuscht, denn ihre Angst um Charles war jetzt um so begründeter.
    »Was sagt Mutter?« fragte er.
    »Nichts.«
    Seine großen, durchdringend blauen Augen saugten sich an ihr fest. »Schob sie es nicht auf meine Mitochondrien? Oder auf die Farandolae?«
    »Wie, bitte? Warum hätte sie das tun sollen?«
    Charles Wallace ließ die Beine baumeln, schlug mit den Schuhsohlen gegen die Mauer, blickte Meg unergründlich an und blieb ihr die Antwort schuldig.
    »Warum sollte Mutter von Mitro … – Mitochondrien sprechen?« wiederholte sie beharrlich. »Oh, jetzt fällt es mir wieder ein! Haben die dich nicht schon am ersten Schul tag in Schwierigkeiten gebracht?«
    »Ich interessiere mich sehr für sie. Und für Drachen. Schade, daß sie noch nicht wiedergekommen sind.« Er wollte ohne Zweifel das Thema wechseln. »Warten wir noch ein bißchen. Mit Drachen nehme ich es jedenfalls immer noch lieber auf als mit diesen schrecklichen Jungen in der Schule. Übrigens: Vielen Dank, daß du meinetwegen mit Herrn Jenkins gesprochen hast.«
    Das hätte ein streng gehütetes Geheimnis bleiben sollen. »Wie hast du denn das wieder erfahren?«
    »Eben so.«
    Meg faßte an ihre Schultern. »Leider kam nicht viel dabei heraus.« Das hatte sie allerdings auch kaum erwartet. Herr Jenkins war jahrelang der Leiter von Megs Oberschule gewesen. Offiziell hatte man seine jüngste Versetzung an die unbedeutende Dorfschule damit begründet, auch die Unterstufe müsse aufgewertet werden, und er sei der geeignetste Mann für diese Aufgabe. Es ging aber das Gerücht, er sei bloß mit den Rowdies an seiner alten Schule nicht mehr fertiggeworden. Meg traute ihm überhaupt nicht zu, jemals mit irgend jemandem umgehen zu können, und sie war fest davon überzeugt, daß er Charles Wallace weder verstand noch mochte.
    An dem Tag, an dem Charles Wallace in die erste Klasse kam, war Meg noch nervöser gewesen als er. Sie konnte sich nicht auf den Unterricht konzentrieren. Als die Schule endlich überstanden war und sie den Hügel zum Haus hinauf gerannt kam, traf sie Charles mit einer aufgeplatzten und blutenden Lippe an. Das Unvermeidliche war geschehen, und ihre tiefe Entmutigung mischte sich mit brennendem Zorn.
    Im Dorf hatte man Charles schon immer für etwas seltsam und nicht ganz bei Trost gehalten. Wenn Meg die Briefe vom Postamt oder Eier aus dem Laden holte, schnappte sie gelegentlich Gesprächsfetzen auf: »Der kleine Murry ist aber ein komischer Junge!« – »Ja, gerade die gescheitesten Leute haben oft die dümmsten Kinder.« – »Angeblich kann er noch nicht einmal sprechen!«
    Das alles hätte sich hinnehmen lassen, wäre Charles Wallace tatsächlich ein Blödian gewesen. Aber das war er eben nicht; er war bloß unfähig, seinen Wissensvorsprung vor den anderen Sechsjährigen in der Klasse zu verbergen. Allein sein Wortschatz sprach gegen ihn. Charles hatte tatsächlich erst sehr spät zu sprechen begonnen, aber dann gleich in ganzen Sätzen und ohne das übliche Kleinkindergeplapper. In Gegenwart Fremder war er nach wie vor schweigsam – einer der Gründe, warum man ihn für zurückgeblieben hielt. Und auf einmal redete dieser Erstkläßler wie ein Erwachsener, wie seine Eltern oder seine Schwester! Sandy und Dennys, die Zwillinge, kamen mit allen Leuten zurecht. Kein Wunder, daß man Charles überall ablehnte: Erst hatte man ihn für einen Idioten gehalten, und jetzt plauderte er wie ein wandelndes Lexikon.
    »Meine lieben Kinder!« hatte sich die Lehrerin mit gewinnendem Lächeln am ersten Morgen an die kichernde Schar gewandt. »Ich möchte, daß mir jeder von euch etwas über sich erzählt.« Sie blickte auf die Namensliste. »Beginnen wir mit Mary Agnes. Wer von euch ist Mary Agnes?«
    Ein kleines Mädchen mit Zahnlücken und straff geflochtenen blonden Zöpfchen piepste, sie wohne auf einem Bauernhof, versorge dort selbst einige Hühner, und die hätten heute siebzehn Eier gelegt.
    » Sehr schön, Mary Agnes! Und jetzt zu dir, Richard – oder sagt man daheim Dicky zu dir?«
    Ein fetter Knirps stand auf, nickte heftig und grinste.
    »Nun, was willst du uns Hübsches erzählen?«
    »Jungen sind nicht wie Mädchen«, legte Dicky los. »Sie sind anders gebaut, weil sie nämlich … «
    » Ausgezeichnet , Dicky, ganz ausgezeichnet! Darüber werden wir später noch mehr lernen. Als nächste kommt Albertina an die Reihe.«
    Albertina wiederholte die erste

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